„… höher als die Liebe zur Wissenschaft steht die Treue zum eigenen Vaterland …“: Hallenser Romanisten im Ersten Weltkrieg
Annette Schiller
Das Titelzitat stammt aus einem Brief von Carl Voretzsch an das Romanische Seminar Halle vom 30. Juli 1915.
Für uns Heutige scheint es unvorstellbar, dass Lehrende und Studenten der Romanistik mit derselben Verve und Begeisterung, mit der sie sich bis zum Ende des Sommersemesters 1914 der französischen Sprache, Literatur, Geschichte und Kultur gewidmet hatten, in den ersten Augusttagen in die Meldebüros zogen und sich freiwillig zum Kriegsdienst gegen Frankreich meldeten. Wie sie vom „Großen Krieg“ betroffen waren, soll an einigen Beispielen gezeigt werden, deren gemeinsamer Bezug die Zugehörigkeit zum Romanischen Seminar Halle ist. Dabei geht es nicht darum, die großen Linien der Welt- und Fachgeschichte aufzuarbeiten, sondern der Blick auf einige persönliche Zeugnisse – Briefe und Tagesbuchnotizen – soll uns die Situation und Geisteshaltung der Professoren und Studenten in der damaligen Zeit und die Rückwirkungen des Krieges auf das Fach vor Augen führen.
Man zieht 1914 also gegen den „Erbfeind“ ins Feld, der nicht erst seit 1870/71 in Frankreich verortet wurde; bereits als es im 17. Jahrhundert gegen die Truppen Ludwigs XIV. ging, tauchte der Begriff in diesem Zusammenhang auf. Folgt man Michael Nerlich1, so waren in der entstehenden Romanistik, z.B. bei Friedrich Diez, dem Geist der Zeit in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gemäß von Anfang an antifranzösische Gedanken ebenso zu finden wie bei Fichte, E. M. Arndt2 und dem Turnvater Jahn. Ebenso ist es kein Zufall, dass hundert Jahre nach der Völkerschlacht gegen Napoleon in einer aufgeheizten Situation 1913/14 auch die antifranzösischen Ressentiments neue Nahrung erhalten. Zwar sieht man sich 1914 (allerdings in der Rückschau) noch ganz friedliebend, denn in der Besprechung zum Bericht über die XVI. Tagung des Neuphilologenverbandes in Bremen im Juni 1914 spricht man von einer Tagung, auf der
„wir glaubten es wirklich“ aufrichtig gemeinte Friedenskundgebungen ausgetauscht worden waren. Wer hätte nach den freundschaftlichen Begrüßungsworten der Vertreter der französischen, russischen, großbritannischen und serbischen Wissenschaft […] ahnen können, daß wenige Wochen später all diesen Bestrebungen auf unabsehbare Zeit ein jähes Ende gemacht werden sollte?3
Dieser Blick zurück verschweigt die damals herrschende allgemeine Kriegseuphorie. Am 1. August 1914 erklärt Deutschland Russland, am 3. August Frankreich den Krieg. Bei einem Zeitzeugen jener Tage lesen wir dazu kurz vor Kriegsausbruch: „Ich war sehr erfreut, sehr erregt, ich glaubte, ein allgemeines Volksgefühl zu konstatieren und selbst in ihm aufzugehen“, ebenso „Ich war sehr kriegerisch“ – „Ich äußerte mich sehr chauvinistisch“. Wir hören hier einen Zeitzeugen, der aufgrund seiner Biographie eines besonders ausgeprägten Nationalismus und starker Deutschtümelei unverdächtig ist: Victor Klemperer4. Doch auch er war angesteckt:
Aber ich muss es mir immer wieder sagen: Wir sind bestimmt in Notwehr und wirklich in allerheiligster. […] Aber soweit überhaupt von menschlicher Verschuldung und Schuldlosigkeit die Rede sein kann, soweit ist Deutschland fraglos unschuldig.5
Aus dem Abstand der Jahre folgt als unmittelbar nächster Satz: „Ein bißchen peinlich sind mir meine Notizen“. Als Klemperer 1940 sein „Curriculum vitae“ niederschreibt, misstraut er seinem vaterländischen Impetus jener Lebensphase: „Für die merkwürdig kurze Zeit, bis mir der Krieg ein gewohnter Zustand geworden, muß ich jetzt die Erzählung durch die unmittelbarem Tagebuchnotizen ersetzen“6; und weiter:
Wie sollte mir heute die Selbstverständlichkeit des „Wir“ und der vaterländischen Begeisterung und der vollkommenen Überzeugtheit von Deutschlands schneeweißer Unschuld, von Deutschlands berechtigtem Anspruch auf die Vorherrschaft in Europa aus der Feder fließen? Ich bringe es nicht über mich, das neuformend nachzuerzählen, […] Heute, im Herbst 1940, wo ich zwischen meinen damaligen Mitbürgern enger und rechtloser als ein Kriegsgefangener lebe, ist meine Erinnerung ganz gefühlsmäßig erfüllt von jenem einheitlichen Enthusiasmus des Sommers 1914. Und nun, im Durchlesen der alten Aufzeichnungen, sehe ich mit Erstaunen, wie ich damals, gerade aus der unbefangenen Selbstverständlichkeit meines Deutschgefühls heraus, in aller Begeisterung und bei aller Unerschütterlichkeit jener Grundüberzeugungen dennoch fast von Anfang an auch Stunden des Selbstbesinnens und des Zweifelns hatte. Auch diese kritischen Ergüsse kann ich nicht nachformen; ich würde sonst nie die Furcht los, in mein damaliges Empfinden hineinzufälschen, was ich heute denke.7
Klemperer ist 1914 Lektor an der Universität Neapel, erlebt aber den Kriegsbeginn in den Semesterferien in München, hin und her gerissen zwischen dem Gefühl des Deutschseins und Dazugehörens und der Angst vor dem, was kommen könnte.
Ganz ohne die bei Klemperer schon damals, wenn auch leise artikulierten Zweifel erscheint am 23. Oktober 1914 eine „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“:
Wir Lehrer an Deutschlands Universitäten und Hochschulen dienen der Wissenschaft und treiben ein Werk des Friedens. Aber es erfüllt uns mit Entrüstung, daß die Feinde Deutschlands, England an der Spitze, angeblich zu unsern Gunsten einen Gegensatz machen wollen zwischen dem Geiste der deutschen Wissenschaft und dem, was sie den preußischen Militarismus nennen. In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu. Unser Heer pflegt auch die Wissenschaft und dankt ihr nicht zum wenigsten seine Leistungen. Der Dienst im Heere macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft. Denn er erzieht sie zu selbstentsagender Pflichttreue und verleiht ihr das Selbstbewußtsein und das Ehrgefühl des wahrhaft freien Mannes, der sich willig dem Ganzen unterordnet. Dieser Geist lebt nicht nur in Preußen, sondern ist derselbe in allen Landen des Deutschen Reiches. Er ist der gleiche in Krieg und Frieden. Jetzt steht unser Heer im Kampfe für Deutschlands Freiheit und damit für alle Güter des Friedens und der Gesittung nicht nur in Deutschland. Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche „Militarismus“ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes.8
Fast die gesamte deutsche Professorenschaft mit ganz wenigen Ausnahmen unterschrieb, Klemperer konnte dies deshalb nicht tun, weil er ja noch nicht Professor war. Unter den Unterzeichnern9 finden wir auch die Romanisten Wendelin Foerster (Bonn), Eduard Wechssler (Marburg), Heinrich Morf (Berlin), Karl Vossler (München), der auch schon das „Manifest der 93“10 unterschrieben hatte, Oscar Schultz-Gora (Straßburg) und aus Halle Carl Voretzsch und Berthold Wiese.11 Die Propaganda war in Hochform und wirkte sichtbar, man versuchte die innere Verbindung von Wissenschaft und Kriegsdienst zu begründen.
In Halle – und natürlich nicht nur dort – eilten unterdessen ganz selbstverständlich die jungen Romanisten zu den Waffen, um es ihrem „hochverehrten Seminarleiter“ gleich zu tun. Carl (später Karl) Voretzsch,12 seit 1913 Ordinarius in Halle und Leiter des Romanischen Seminars, damals 47 Jahre alt und ein nach den Worten seiner Tochter Leonore „kernhafter Deutscher“,13 meldete sich sofort nach Kriegsausbruch als Freiwilliger:
Unser Vater hatte sich, was er uns oft erwähnte in den letzten Jahren, für den Kriegsfall freiwillig zur Verfügung gestellt. So war er bei Kriegsausbruch 1914 gleich am 3. August, dem 46. Geburtstag unserer lieben Mutter, zu den Fahnen geeilt.14
Offensichtlich hat das deutschnationale Vorbild des Seminarleiters und verehrten Professors neben der allgemeinen Kriegsbegeisterung so gewirkt, dass sich die meisten der jungen Studenten und Absolventen schon in den allerersten Kriegstagen freiwillig meldeten. Wir wissen dies deshalb recht genau, weil das Romanische Seminar in Halle in der Mitte des Krieges aus den seit Kriegsbeginn bis zum Sommer 1916 (das letzte Bezugsdatum ist der 28. Mai 1916) von Studenten und Absolventen und dem Direktor selbst an das Institut geschickten Kcarten, Briefen und Erlebnisberichten eine Art Chronik des Krieges zusammenstellte. Sie wurde per Hand und Schreibmaschine auf dünnes Durchschlagpapier abgeschrieben und nebst Feldpostadressen an die im Felde Befindlichen geschickt, auch um den Kontakt untereinander zu vermitteln.15
Auch in diesen Berichten ist zu Anfang recht viel Kriegsbegeisterung zu spüren, in der späteren Phase aber auch der Wunsch nach Frieden. Dabei muss man in Rechnung stellen, dass es sich um (halb-) öffentliche Texte handelt und da man wusste, dass der so hochverehrte Herr Seminarleiter Voretzsch ein glühender Patriot und Kriegsfreiwilliger war, schrieb man, so man eventuell doch eine andere Meinung gehabt hätte, sicherlich vorsichtig.
Nach der Einleitung „Einem mehrfach geäusserten Wunsch entsprechend, haben wir versucht, in kurzen Zügen die Geschichte des Seminars seit Kriegausbruch zusammenzustellen“ folgen zunächst auf zwei Seiten einige Kriegerlebnisse von Voretzsch selbst; man berichtet aber auch, welche Themen Prof. Wiese, der das Seminar vertretungsweise leitete, im Seminar der ersten Kriegssemester behandelte (Decamerone, Wilhelm von England, Chrestien de Troyes, und ausgewählte Stücke aus der Bartsch’schen Chrestomatie). Danach folgen Briefauszüge der Seminarmitglieder. Bereits am 31. Oktober 1914 musste der Seminarleiter dem ersten gefallenen Studenten, dem gerade erst frisch promovierten Erwin Stimming16 einen Nachruf widmen, der ebenfalls zitiert wird:
Am 21. Oktober starb ein uns allen liebes und teures Mitglied unseres Seminars, Dr. phil. Erwin Stimming, in der Schlacht am Yserkanal den Heldentod fürs Vaterland. Frisch und fröhlich, wie wir ihn kannten, war er bei Kriegsausbruch als Kriegsfreiwilliger zu den Fahnen geeilt und vor wenigen Wochen im Res. Inf. Tegt. 234 in Feindesland gezogen. Nun hat der Tod allen seinem Streben ein frühes Ziel gesetzt. Wir betrauern in ihm einen gediegenen lauteren Charakter, einen heitern und liebenswürdigen Gesellschafter, einen fleissigen, ernsthaften, vielversprechenden jungen Gelehrten. Uns bleibt nur ein Trost: Dulce et decorum est pro patria mori.17
Bis 1916 muss der Tod dreier weiterer Seminarmitglieder vermeldet und auch von Vermissten bzw. an den Kriegsfolgen Gestorbenen berichtet werden.18 Doch auch das Schicksal des seit 1913 am Institut tätigen französischen Lektors wird erwähnt:
Lektor Dr. Lavoipière wurde sogleich auf französischer Seite eingezogen, aber noch im selben Jahr, 1914, spassiger Weise von einem ihm bekannten Hallenser gefangen genommen und nach dem Sennelager transportiert.19
Sicher wurden die freiwilligen Meldungen der Romanistikstudenten bei Kriegsausbruch auch deshalb in aller Regel positiv aufgenommen, weil sie die Sprache des Kriegsgegners beherrschten und so an der französischen Front nützlich sein konnten. In den Briefen tauchen fast alle bekannten und zum Teil grausam berühmten Kriegsschauplätze auf, vor allem Belgien und Frankreich (Yserkanal, Ostende, Westerkerke, Arras, Béthune, Champagne, Sedan), aber auch Russland. Andererseits lesen sich die Texte über weite Strecken merkwürdig distanziert, wohl nur so waren die Schrecken des Krieges auszuhalten; vieles bleibt unerwähnt. So findet sich kein Wort über die Zerstörung der Universitätsbibliothek Löwen, über die Bombardierung der Kathedrale von Reims, kein Wort über Giftgaseinsatz – von einer Gasmaske ist nur einmal in einem Brief im Zusammenhang mit starken Rauchern die Rede20. Man muss schon manchmal zwischen den Zeilen lesen, um Verluste und Schlachten nachvollziehen zu können, z.B. wenn davon geschrieben wird, dass neue Divisionen gebildet, Einheiten aufgefüllt wurden usw.
Hier als Beispiel für Inhalt und Tenor der Berichte ein Auszug aus dem Bericht von Rudolf Windel:
Vizefeldwebel Rudolf Windel, Landw. Inf. Regt. Nr. 20, M.G.K., 11 gem. landw. brigade, 26. Res. A.K. Res. Div. – Westen) schickte am 10. 5. 1916 folgenden Bericht:
Ich trat seinerzeit kurz nach der Mobilmachung als Kriegsfreiwilliger in Halle beim Füs. Regt. 36 ein. Nach etwa 8 wöchiger Ausbildung kam ich im Oktober 1914 ins Feld (Westen). Mein Regiment lag damals in einer relativ ruhigen Stellung südlich von Arras. Es war gerade die zeit wo im Westen der Stellungskrieg begann. Hier kostete ich zunächst die „Freuden“ eines kriegsfreiwilligen Musketiers in jeder Weise aus und sah gleichzeitig den Stellungskrieg in seinen primitivsten Anfängen an entwickeln. In dieser Stellung vor Arras lagen wir den Winter hindurch bis etwa Mitte März 1915. Dann wurde unser Regiment aus dem IV. A.K. herausgezogen. Wir verlebten einige Tage in Cambrai. Dann gings in die Gegend von Sedan (ich lag in Bazeilles), wo eine neue Division gebildet wurde, zu der wir von da an gehören sollten. Hier verlebten wir eine schöne Zeit den April hindurch. Ende April kamen wir in die Woeuvre-Ebene, zunächst in die Gegend von Marchéville, wo wir besonders mitgenommene Regimenter ablösten. Stellungen ausbauten und ähnliches. Das Wetter war damals ganz miserabel, die Schützengräben die reinsten Wassergräben, dazu das nötige Artilleriefeuer. Die schlimmsten Tage habe ich dann auf der Côte Lorraine, vor Les Eparges in den herrlichen Buchenwäldern mit dem uns so verhassten dichten Unterholz verlebt. Am 26. 4. habe ich hier noch mit einer Infant.Kompagnie einen höchst unangenehmen Sturm mitgemacht, bei dem wir in flankierendes französisches Maschinengewehrfeuer gerieten, durch das wir grosse Verluste hatten. Ich habe den Tag merkwürdigerweise heil überstanden. Unmittelbar nach diesem Sturm wurde ich zur Maschinengewehrkompagnie unseres Regiments versetzt, bei der ich schon November – Dezember 14 und Februar 15 gewesen war, zwecks Ausbildung am M.G. Seitdem bin ich M.G.-Soldat geblieben. Am 5. Mai stürmten wir vor Les Eparges zum 2. Male, hatten diesmal so ungeheuere Verluste an Offizieren und Mannschaften, dass wir kurz darauf abgelöst werden mussten; auch unser Regimentskommandeur fiel an diesem Tage. Nach diesen anstrengenden Tagen in den Wäldern an der „Grande Tranchée“ kamen wir zur Erholung für einige Wochen in ein kleines Dorf hinter der Front, wo unsere Regiment ganz allmählich wieder aufgefüllt wurde. Beim Exerzieren verletzte ich mich hier am Fuss und kam einige Zeit ins Kriegslazarett Valleroy. Danach kam ich an die Front zurück nach St. Mihiel. Im September kamen wir gegen Schluss der grosses Offensive nach der Champagne (St. Souplet). Hier lagen wir 21 Tage ununterbrochen in vorderster Linie Unser Ausfall an Toten, Verwundeten und vor allem Kranken war ziemlich beträchtlich, und so wurden wir Anfang November abgelöst und kamen nach Lothringen in Ruhe. Von hier wurde ich dann zum Maschinengewehrkursus (Offizierskursus) nach Döberitz abkommandiert. In Döberitz war in mit Herrn Bomeisl in einer Kompagnie zusammen. Nach Schluss des Kursus erkrankte ich in Halle an Lungenentzündung, erhielt nach meiner Genesung einige Tage Erholungsurlaub, war dann etwa 14 Tage bei meiner Ersatzkompagnie in Torgau und kam schliesslich Anfang April als Führer eines selbständigen Maschinengewehr-Zuges für 4 Wochen wieder nach Döberitz. Von dort aus bin ich Anfang Mai wieder ins Feld gerückt, zum Landwehr-Inf. Regt. Nr. 20, wo ich mich zur Zeit befinde.21
Unteroffizier Werner Bulle, auch er Kriegsfreiwilliger, schreibt am 28. Mai 1916 aus Russland über den Kriegsbeginn:
Unsere letzte Seminarsitzung am 1. August 1914 wurde ja gleich das erste Opfer des Krieges. An demselben Tage noch kam ich nach Magdeburg, meiner Heimat. Am nächsten Tage 3 Uhr nachmittags stolzierte ich schon als Muschko auf der Hauptstraße auf und ab.“ […] Nach 11/2 monatiger Ausbildung auf dem Kasernenhofe wurde ich dem neugebildeten Inf. Rgt. 217 zugeteilt und nach weiterer 14 tägiger Ausbildung auf dem Truppenübungsplatz Heuberg in Württemberg kamen wir nach Metz, wo wir an den Kanonendonner, der von Verdun herüberklang, gewöhnt wurden. Einige herrliche Herbsttage durften wir noch an der Mosel weinberankten Ufern zubringen. Die Schlachtfelder von 1870/71 sahen uns manchen Schweisstropfen verlieren und manchen Sturmangriff machen. Dort besichtigte Se. Majestät angesichts der Schlachtfelder von Gravelotte unser junges 24. Reservekorps. Gegen Ende Oktober schoben wie uns allmählich näher an die Front heran. Über Mars la Tour rückten wir in Tagemärschen gegen Verdun vor, wo wir noch einige Tage hinter der vordersten Linie als Reserve lagen. Dann aber kamen wir nach vorn und zwar an jene Stelle, die jetzt durch den Durchbruch bekannt geworden ist. Douaumont hat uns immer seine eisernen Portionen zugesandt, und am 9. November gingen wir gegen das seitdem bekannt gewordene Ornes vor. Kaum hatten wir jedoch die Feuertaufe in Frankreich über uns ergehen lassen, als wir aus der Front wieder zurückgezogen und nach dem Osten verfrachtet wurden. Die Russen standen vor Krakau.“22
Er berichtet auch über eine der aus verschiedenen Kriegssituationen bekannten spontanen Feiertagsruhen:
Ostern23 war zwischen uns und den Russen wie durch Verabredung eine Art Waffenstillstand eingetreten. Wir stiegen aus den Gräben heraus und trafen uns mit unseren Gegner auf halben Wege, um uns friedlich zu bestaunen. Nur wer selber dabei war, kann dieses vielleicht sonderbar erscheinende Verhalten verstehen.24
Man beschreibt die eigene Lage oft ironisch, auch witzig, macht sich lustig über Kameraden und Vorgesetzte, die Fehler in der deutschen Sprache machen, und versucht, die Angst vor einer bevorstehenden Schlacht zu verstecken:
[…] wir wurden an die berüchtigte Höhe Notre Dame de Lorette geschickt, von der uns die französische Bevölkerung immer mit einer gewissen Schadenfreude und spöttischem Ton erzählte, qu’elle ne se laisse pas monter pas les Allemands.25
1916 kommt dann aber auch der Wunsch nach Frieden in den Texten vor. So schreibt Werner Bulle am 28. Mai 1916 aus Russland:
Seit 3 Monaten haben wir nichts anderes gesehen als Wald, Wasser, Schnee und Eis. Eine Art Wasserburg ist unser Wigwam. So geht es vielleicht noch Monate weiter und wir richten uns schon auf den kommenden Winter ein. Hoffentlich haben wir bis dahin Frieden, …26
Seine Hoffnung sollte nicht in Erfüllung gehen, wenige Wochen nach diesem Brief, am 30. Juli 1916, fiel er.27 Doch es gab auch so etwas wie Normalität in diesem Krieg; die französisch sprechenden jungen Soldaten waren für die Verwaltung der besetzten Gebiete und die Kontakte zur französischen Bevölkerung nützlich. Armierungssoldat Ernst Middendorf schreibt am 9. April 1916, er sei
[…] seit 2 Monaten als Ordonnanz bei einer Ortskommandantur als Schreiber, Dolmetsch und „ausführender Beamter“, kurz, als Mädchen für alles. Dieser neue Posten ist insofern für mich ganz angenehm, als ich zu ¾ französisch sprechen muss, allerdings nicht Pariser Französisch, sondern ein schauerliches Patois. […]
Augenblicklich bin ich Vorsteher der hiesigen Lesehalle. Allerdings ist hier der Begriff Lesehalle etwas gewandelt. Erstens herrscht hier nicht absolute Ruhe, sondern manchmal dröhnt die Bude, dass man meint, die Schreiben springen. Doch wer es gewohnt ist, den stört es weder in der Lektüre einer mimosenzarten Stormschen Novelle noch in der tiefen Betrachtung Fichtescher oder Kantischer Philosophie. Zwar hängen auch hier Schilder mit „Es ist verboten …“. Denn diese erhöhen für jeden deutschen die Gemütlichkeit eines Lokals. Aber Rauchen ist nicht verboten, und der blaue Dunst, nein Qualm der Liebesgaben-Zigarren und des Tabaks für „Heer und Flotte“ lässt einen unwillkürlich nach der Gasmaske greifen. Auch müssen Sie nicht denken, dass ich als Lesewart nur mit Argusaugen darüber zu wachen hätte, dass unter der Bildung des Geistes nicht der Ordnungssinn leidet. Da müssen Bücher für den Geschmack eines Schwarzwälder Hinterwäldlers, für einen tiefsinnigen Pietisten, für Berliner Lehrer, für Kölner Kellner ausgesucht werden. Da sind Öfen zu heizen, Tintenstifte und Ansichtskarten zu verkaufen, da muss Kaffee und Tee für die Durstigen gekocht werden, Skatspieler wollen die schwere Frage entscheiden haben, ob Karo solo mit 15 oder 18 berechnet wird usw. usw. Sie sehen: Lesehalle und Bücherwart haben hier einen etwas anderen Inhalt bekommen.
Was die sprachlichen Fortschritte angeht, so wäre er allerdings nicht von Schaden mal nach Paris zu gehen. Denn hier wird ein schauerliches patois gesprochen. […] Aber ich höre auch sehr viel gutes Französisch. Gleich muss ich noch eine Mitteilung an die Gemeinde französisch aufsetzen. Schwierig wird die Sache, wenn ich, wie neulich, an die zwei Stunden mit dem Bürgermeister über eine einzuführende Hundesteuer oder eine Ernteabrechnung unterhandeln muss.28
Der Seminarleiter Carl Voretzsch selbst schreibt auch regelmäßig an sein Institut, so z.B. aus Ulm am 30. Juli 1915:
Gern wäre ich bei Ihnen und unter Ihnen gewesen und mit Ihnen gemeinsam auf dem über den Krieg erhabenen Gebiet der romanischen Wissenschaft zu arbeiten. Aber höher als die Liebe zur Wissenschaft steht die Treue zum eigenen Vaterland und der Entschluss, sie durch die Tat zu bekräftigen, solange man sich noch dazu fähig fühlt. Und ich glaube dem Vaterlande zur Zeit auf dem bescheidene Plätzchen, das ich hier ausfülle, mehr zu nützen als auf dem Katheder der Hochschule“29.
Am 12. Februar 1916 berichtet er aus Flandern, er sei auf seine „alten Tage wieder Student, nämlich ‚Schützengrabenstudent‘ geworden, wie man die Offiziere nennt, die für einige Zeit ‚zur Information‘ an die Front kommandiert werden“30.
Voretzsch, der als Ausbilder eher in der „Etappe“ tätig war, gab Kurse in Französisch, Englisch und Mathematik, später auch Italienisch, für Offiziere31, und hielt wie bereits vor dem Kriege und auch danach weiterhin regelmäßig politische Vorträge, wie auch seine Tochter berichtet, so z.B. am 31. März 1916 im Festungshauptlazarett Ulm zum Thema „Das Deutschtum im Auslande“ und am 1. Oktober 1916 zu „Rumänen, Romanen und Germanen“32.
Bereits im Herbst 1916 hatte die Universität ihren Ordinarius wieder für sich reklamiert, dieser habe sich „aber freiwillig erboten […], weiterhin beim Bataillon zu bleiben, um an der Ausbildung der Mannschaften für den Frontdienst mitzuwirken“.33 Die zweite Reklamation der Universität, die Angst hatte, die Studenten liefen weg34, war dann erfolgreich und Voretzsch schied zum 5. Oktober 1917 aus dem Militär aus und übernahm wieder seinen Lehrstuhl. Seine Tochter schreibt, der Abschied sei ihm schwergefallen, „da sein Bataillon, an dem er sehr hing, grade vom Westen nach der Ostfront kommen sollte, was er auch gern erlebt hätte.“35 Ebenso berichtet sie stolz von den verschiedenen Auszeichnungen des Vaters, die letzte, den „Herzog Ernestinischen Hausorden mit Schwertern aus Altenburg“ bekam er nach seiner Rückkehr an der Universität überreicht. Gefeiert wurde das Ereignis nebst Hochzeitstag der Eltern im „froh und dankbar bei französischem Rotwein“.36 Auch bei der privaten morgendlichen Feier der Silberhochzeit am 5. Oktober 1918 im eigenen Haus trug Voretzsch seine Orden am Gehrock und öffnete an diesem Tag „unsere letzte Champagnerflasche, die eigentlich die Friedensflasche hatte werden sollen.“37 Trotz der deutschnationalen Reden wurden also die Genüsse aus Feindesland nicht verschmäht.
An der Universität hatte Voretzsch nach Aussagen seiner Tochter zunächst nur noch „30 Hörer statt 150 wie vor dem Krieg“38, zudem gab es Kurz- und Zwischensemester sowie Extrakurse für die Kriegsteilnehmer. Und bei Kriegsende ging es darum, den Lehrbetrieb wieder in ruhige Bahnen zu lenken, was gerade für ein Fach, das so stark von dem eben erlebten Feindbild mittelbar und unmittelbar betroffen war, nicht leicht sein konnte. Denn die Romanistik war „[i]n ihren Grundfesten erschüttert“.39
Dies wird auch in der Schrift „Das Romanische Seminar der vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg im ersten Halbjahrhundert seines Bestehens“ (1926) deutlich, wo Voretzsch schreibt:
Der große krieg hat auch die wissenschaftliche arbeit im seminar aufs stärkste beeinträchtigt. Die in den kriegsjahren noch erschienenen dissertationen stammen meist noch aus der vorkriegszeit. […] Viele von denen, die vor dem krieg dem seminar angehört hatten, kehrten nicht wieder, um ihre studien zu vollenden. Sie sind den süßen tod der freien gestorben. Von 138 jüngern unserer wissenschaft, die in den letzten drei semestern vor dem krieg mitglieder des seminars oder proseminars waren, sind vierunddreißig, genau der vierte teil, gefallen40. Eine, die das andenken dieser tapferen ehrt, wurde im Seminar am 15. Februar 1923 enthüllt.41
Die Romanistik musste sich ebenso wie die anderen Neuphilologien als Fach neu orientieren und auch vielfältiger Angriffe von außen erwehren, denn was Alexander Kalkhoff für die Romanistik und damit insbesondere für das Französische konstatiert, galt für alle neuphilologischen Schulfächer:
Förmlich über Nacht verwandelten sich große Teile ihrer geistigen Heimat in Feindesland, ein Umstand, der sich im Kriegseinsatz im Felde und nach der deutschen Niederlage zu einer wahrhaft identitären und existentiellen Krise auswuchs.42
Dieser Neuorientierung sollte auch die XVII. Tagung der Neuphilologen 1920 in Halle dienen. Zwei Grundgedanken bestimmen die Diskussionen: zum einen die Notwendigkeit einer Kulturkunde, die den Feind besser erkennen und durchschauen lässt43, zum anderen Argumente, warum es gerade jetzt weiterhin wichtig ist, das Französische und andere Sprachen der Kriegsgegner in der Schule zu unterrichten.
Den Gedanken der kulturkundlichen Durchdringung44 der Absichten und Ansichten der Feinde finden wir auf der Tagung allenthalben, so auch schon in der Eröffnungsrede von Dr. Georg Hanf, Direktor des Reformrealgymnasiums Halle, der die Niederlage des Krieges in der falschen Einschätzung der Kriegsgegner sucht:
Wenn wir trotz nationaler Begeisterung, trotz höchster Leistungen in Technik und Wissenschaft unterlagen, so beruhte das mit darin, dass wir die fremde Volksseele nicht genügend kannten und in falscher Bewertung des nationalen Wollens unserer Feinde Fehler auf Fehler häuften.45
Als Gastgeber der Halleschen Tagung hielt Voretzsch natürlich den zentralen Vortrag mit dem Thema „Die Vor- und Weiterbildung der Neuphilologen mit Rücksicht auf die jetzigen Verhältnisse“. Die zentrale Rolle solider Sprachkenntnisse ist ihm ein besonderes Anliegen. Durch die Verarmung der Mittelschichten als Kriegsfolge müssten die Studenten ihr Studium abkürzen, verzichteten auf die Promotion ebenso wie auf Auslandsaufenthalte, aber auch „der den Krieg überdauernde Haß unserer Feinde macht den für den künftigen Lehrer so notwendigen Auslandsaufenthalt zur Vervollkommnung in der lebenden Sprache auf lange Zeit hinaus zur Unmöglichkeit.“46
Bereits auf der Bremer Tagung 1914 hatte er die Unverzichtbarkeit eines Auslandsaufenthaltes für den künftigen Französischlehrer47 betont. Das sei auch dazu wichtig, „daß der künftige Lehrer mit eigenen Augen und Ohren das Land und Volk kennen lerne, dessen Sprache er seine Schüler lehren, dessen Geisteswerke er ihnen erklären will“48 und er fordert sogar, bedürftigen Studenten die Reisekosten zu erstatten oder zu bezuschussen. In Halle legt ein noch einmal die bereits in Bremen veröffentlichten „Leitsätze“ zur Milderung der Situation vor. Außer der Forderung nach mehr Professuren und mehr Geld für die Universitäten sowie nach Unterricht in „Auslandskunde und Volkskunde“49 betont er, dass neben den bereits meist im Krieg tätigen deutschen Oberlehrern (in Halle war dies der in Paris geborene Prof. Dr. Friedrich Klincksieck), weiter ausländische Lektoren gebraucht würden, man solle sie aber jetzt nicht ins Land holen, sondern auf bereits in Deutschland lebende zurückgreifen. Genau dies tut er auch an seinem eigenen Seminar: Er stellt sofort nach Kriegsende den oben erwähnten Lektor Dr. Clair Lavoipière, der bereits bis Kriegsausbruch in Halle gelehrt hatte und sich aus der Kriegsgefangenschaft nach Preußen hatte entlassen lassen, wieder ein, was ihm heftige Angriffe in einer Halleschen Tageszeitung50 einträgt, auf die Voretzsch ebenfalls öffentlich entgegnet:
Die Universitätsbehörde hat für möglichst gründlichen und vielseitigen praktischen Unterricht in den modernen Sprachen zu sorgen und muß dazu geborene Ausländer gerade jetzt um so mehr heranziehen, als unseren Neuphilologen in den nächsten Jahren, ja Jahrzehnten jeder Aufenthalt in Frankreich unmöglich sein wird.51
In einer weiteren Entgegnung schreibt ein nicht genannter Leser: „…es kann einem ehrliebenden Deutschen nicht zugemutet werden, sich mit einem Angehörigen dieser Schlächter deutscher Ehre an einen Tisch, geschweige denn vor sein Katheder zu setzen!“52 In den Halleschen Nachrichten vom 21. März 192153 wird dann vermeldet, der Französische Lektor Lavoipière habe „die Staatsangehörigkeit in Preußen durch Einbürgerung erworben“; er wird noch bis zu seiner krankheitsbedingten Frühpensionierung 1927 in Halle lehren.
Die Diskussion, ob es deutschen Schülern noch zuzumuten sei, die Sprachen der Kriegsgegner in der Schule lernen zu müssen, wurde offensichtlich sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch fachintern geführt.54 Karl Vossler forderte noch 1922, das Französische nicht mehr in der deutschen Schule zu unterrichten und es besser durch das Spanische zu ersetzen. Klemperer widersprach seinem Lehrer hierin vehement, wenn auch wiederum mit ganz patriotischen Argumenten, „je weniger man dem Nachbarn traue, desto mehr müsse man von ihm wissen“55. Vor diesem Hintergrund entbrennt auf der Tagung in Halle eine Auseinandersetzung über die Rolle der Kulturkunde und der modernen Literatur, die Hausmann56 als eine neue „querelle des anciens et des modernes“ sieht:
Es ist jedoch eine tragische Ironie, dass die Modernen gerade von jenen Reaktionären Zuspruch erhielten, die den Blick der Romanisten auf das gegenwärtige Frankreich lenkten, jedoch nicht aus unvoreingenommenem Interesse und kreativer Neugierde, sondern allein um den Gegner, der Deutschland soeben besiegt hatte, besser kennenzulernen und ihn dann in einem nächsten, längst für unausweichlich erachteten Waffengang ein für alle Male in die Knie zu zwingen.57
Ein besonders nachdrücklicher Vertreter der „anciens“ war Oskar Schultz-Gora. Er argumentiert völkerpsychologisch; für ihn hat das französische Mittelalter „noch viel von fränkisch germanischem Einschlag und mutet uns daher verwandt an“, später trete das Keltische hervor, „das sexuell Raffinierte, die Pose, die Attitüde …“58. Und „so bliebt doch die Tatsache bestehen, daß unter den romanischen Völkern gerade der Franzose, so nahe er uns räumlich steht, uns im ganzen innerlich am fernsten bleibt und letzten Endes immer etwas Sonderliches, Sphinxartiges, ja nicht selten Abstoßendes behält.“59
Den aktuellen Strömungen seines Faches steht er vollkommen ablehnend gegenüber: Zwar hätten auch die Begründer der Romanistik wie Tobler oder Meyer-Lübke „psychologische und kulturgeschichtliche Momente nicht vollkommen ungeachtet gelassen“60, jedoch wünscht er sich, dass die Behandlung der modernen Literatur und der Kultur anderer Länder, wie dies Voßler mit seinem Buch „Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung“ 1913 oder Curtius mit „Die literarischen Wegbereiter des modernen Frankreich“ 1919 machten, in engen Grenzen bliebe61. Diese „Art des französischen Conférenciertums“ sei dem Feuilleton großer Zeitungen zu überlassen; und weiter:
Diese ‚Moderne‘ kann mit wirklicher Besorgnis erfüllen, denn es liegt m. E. nicht nur eine wissenschaftliche Verirrung, sondern was schwerer bedrückt, eine völkische Entgleisung vor, indem es gerade nach dem Kriege würdig gewesen wäre, sich in recht anständiger Entfernung von den heutigen Franzosen zu halten.62
Unsere Beispiele haben gezeigt, wie sehr in vergangenen Zeiten die nationale Idee zu einem Nationalismus verdichtet worden war, der auch und gerade unter Intellektuellen sehr verbreitet war und mit den ihnen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Instrumenten begründet bzw. verteidigt wurde. Doch auch ein glühender Nationalist wie Voretzsch63, der später ein wichtiger Protagonist der Deutschnationalen Volkspartei wurde und Mitbegründer des „Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten“64 war, blieb trotz allem dem Ethos des eigenen Faches in gewissem Maße treu und man kann ihn daher nicht einfach den „anciens“ zuordnen.
Allerdings würde es sich die Romanistik zu einfach machen, für ihre eigene Fachgeschichte weiter davon auszugehen, dass, wie Hans Ulrich Gumbrecht 2002 schreibt, „nichts Romanistisches je in den Verdacht geraten konnte, zu einem peinlichen oder gar kompromittierenden Grad deutsch zu sein“.65
Vgl. Michael Nerlich, „Romanistik: Von der wissenschaftlichen Kriegsmaschine gegen Frankreich zur komparatistischen Konsolidierung der Frankreichforschung“, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 20, Nr. 3–4 (1996): 396–436, hier 403ff.↩
Vgl. Ernst Moritz Arndt: „Des Deutschen Vaterland“: „Das ist des Deutschen Vaterland / Wo Zorn vertilgt den welschen Tand / Wo jeder Franzmann heißet Feind / Wo jeder Deutsche heißet Freund […]“, Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann, worin gelehret wird, wie ein christlicher Wehrmann seyn und mit Gott in den Streit gehen soll (S.l., 1813), 104–6.↩
Besprechung zum „Bericht über die Verhandlungen der XVI. Tagung des allgemeinen deutschen Neuphilologenverbandes (A.D.N.V.)“, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. Bohnhardt in Düsseldorf, Monatschrift für höhere Schulen, XVI. Jahrgang (Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1917), 286–87, hier 286.↩
Victor Klemperer, Curriculum vitae. Erinnerungen 1881–1918, hrsg. von Walter Nowojski, 2 Bde. (Aufbau-Verlag: Berlin, 1996), Bd. 2, 174.↩
Klemperer, Curriculum vitae, Bd. 2, 183.↩
Klemperer, Curriculum vitae, Bd. 2, 172–3.↩
Klemperer, Curriculum vitae, Bd. 2, 173–4.↩
„Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“, 23. Oktober 1914 (Berlin: Klokow, 1914), Digitalisat der Universitätsbibliothek Marburg: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/files/2180/A008838631.pdf.↩
Wir begegnen auf der Unterschriftenliste aber auch vielen anderen noch heute bekannten, auch verehrten Hochschullehrern wie Otto Hahn und Max Planck (Berlin), Edmund Husserl (Göttingen), Georg Cantor (Halle), Ernst Haeckel (Jena). Es wird zudem betont, dass die Erklärung vielen Hochschullehrern nicht unterbreitet werden konnte, da sie sich bereits im Felde befanden.↩
Auch „Aufruf an die Kulturwelt“, unterschrieben von 93 Künstlern und Intellektuellen, vgl. Jürgen von Ungern-Sternberg, Der Aufruf ‚An die Kulturwelt!‘. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, 2., erw. Aufl. (Frankfurt am Main: Peter Lang, 2013), Manifesttext online: http://de.wikipedia.org/wiki/Manifest_der_93.↩
Berthold Wiese (1859–1932) war Lehrer an der städtischen Oberrealschule in Halle und zugleich Italienischlektor, ab 1914 a.o. Professor an der Universität. Vgl. www.catalogus-professorum-halensis.de/wieseberthold.html.↩
Personalakte Voretzsch, UAH Re. 11, PA 16520 und www.catalogus-professorum-halensis.de/voretzschkarl.html.↩
Voretzschs Tochter Leonore schrieb nach dem Tode des Vaters eine Geburtstagszeitung für ihre Mutter: „Der Jubilar. Meiner lieben Mutter zum Geburtstag 1947 zur Erinnerung an viele glückliche Feiern mit ihrem berühmten Lebensgefährten, 3. August 1947, L.V.“ ULB Halle, Nachlass Voretzsch, Yi 36 III 4.; hier S. 8.↩
L. Voretzsch, „Der Jubilar“, 2.↩
Das Typoskript, das sich in den Unterlagen des Instituts befindet, hat elf eng beschriebene Seiten, zunächst zwei Seiten allgemeine Informationen über das Seminar, danach neun Seiten Briefauszüge. Einige Studenten und Absolventen schrieben offensichtlich längere Erlebnisberichte, andere nur einen kurzen Gruß auf einer Postkarte. Es ist nicht mehr auszumachen, ob es sich um alle eingegangenen Briefe und Karten oder um eine Auswahl handelt; ebenso ist unklar, ob nur einzelne Auszüge übernommen wurden, die Form einiger Briefe spricht aber eher dafür, dass nur die Grußformeln weggelassen wurden. Die Zitierung folgt dem Typoskript mit Seitenzahlen und der dort vorhandenen Schreibung inklusive der Fehler, die möglicherweise auch durch das Abschreiben (mit-) verursacht worden sind.↩
Erwin Stimming war der Sohn des Romanisten Albert Stimming, der zunächst in Kiel, ab 1892 an der Universität in Göttingen lehrte (für diesen Hinweis bin ich Frank-Rutger Hausmann zu Dank verpflichtet). Der Vater besorgte auch die Veröffentlichung der Dissertation des Sohnes in den Beiheften zur Zeitschrift für Romanische Philologie, Nr. 59 (Halle: Niemeyer, 1915), die er mit einem ausführlichen Vorwort über das Leben, den Charakter und die Kriegserlebnisse seines Sohnes versah. Ein Exemplar, versehen mit der Widmung „Dem Romanischen Seminar in Halle zur Erinnerung an sein für das Vaterland gefallenes früheres Mitglied Erwin Stimming. A.St.“, schenkte er der Seminarbibliothek, wo es heute noch steht.↩
Typoskript, 1.↩
Typoskript, 1.↩
Typoskript, 1.↩
Vgl. unten den Bericht von Ernst Middendorf vom 9. April 1916, Typoskript, 5–6↩
Typoskript, 3.↩
Typoskript, 4.↩
D.i. Ostern 1915, Anmerkung d. Verf.↩
Typoskript, 5.↩
Typoskript, 7; Herr Bomeisl am 18. Dezember 1915.↩
Typoskript, 5.↩
Vgl. Karl Voretzsch, Das Romanische Seminar der vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg im ersten Halbjahrhundert seines Bestehens (Halle: Karras, Kröber & Nietschmann, 1926), Abschnitt IV; „Die im Kriege gefallenen Seminarmitglieder“, 32.↩
Typoskript, 5f.↩
Typoskript, 7f.↩
Typoskript, 8.↩
Vgl. L. Voretzsch, „Der Jubilar“, 3↩
Handschriftliche bzw. stenographische Notizen zur diesen Vorträgen, auf die er sich offensichtlich genau so penibel wie auf seine universitären Veranstaltungen vorbereitete, liegen im Nachlass Voretzsch in der ULB Halle. Weitere Themen waren in den sogenannten „Kriegsstunden“ in Ulm am 30. Mai 1915 „Unser neuer Gegner Italien“, am 2. November 1915 „Die Balkanstaaten und der serbische Kriegsschauplatz (186), in Lille am 1. April 1917 „Bismarck und der Krieg“, 17. Juni 1917 „Allgemeine Wehrpflicht und Militarismus“ und am 16. September 1917 zum Abschied vom Kriegsdienst „Des deutschen Reiches Schicksalsstunde“. Nach dem Krieg setzte er diese Vortragstätigkeit in volksbildnerischer und auch parteipolitischer Mission fort, z.B. Vortrag in der Deutschnationalen Volkspartei Delitzsch, Montag, 16. Juni 1919 „Frankreich und wir“. Vgl. L. Voretzsch, „Der Jubilar“ und Nachlass Voretzsch ULB Halle Yi 36 I 40.↩
L. Voretzsch, „Der Jubilar“, 2.↩
L. Voretzsch, „Der Jubilar“, 3.↩
L. Voretzsch, „Der Jubilar“, 3.↩
L. Voretzsch, „Der Jubilar“, 4.↩
L. Voretzsch, „Der Jubilar“, 6.↩
L. Voretzsch, „Der Jubilar“, 4.↩
Alexander Kalkhoff, Romanische Philologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Institutionengeschichtliche Perspektiven (Tübingen: Narr, 2010), 274.↩
In Punkt IV des Bandes werden jedoch 48 gefallene und zwei an ihren Verwundungen gestorbene aufgeführt, die meisten gleich 1914 (12) und 1915 (17) (31f.).↩
Voretzsch, Das Romanische Seminar, 7.↩
Kalkhoff, Romanische Philologie, 274.↩
Vgl. Kalkhoff, Romanische Philologie, 274: „Als Remedium empfehlen sich die Neuphilologen auf ihrem ersten Nachkriegstreffen (Halle, 1920) eine nunmehr chauvinistische Kulturkunde, die die geistige Durchdringung der romanischen Völker als Feindaufklärung instrumentalisiert (Folientheorie).“↩
Bereits unmittelbar nach Kriegsausbruch entstanden erste Studien und Arbeiten zur Kultur- und Wesenskunde, z.B. durch Eduard Wechssler (in Halle 1893 bei Hermann Suchier promoviert, ebenda habilitiert 1895). Nerlich schreibt:
„Nach Kriegsausbruch wird Wechsslers Feiertags-Patriorismus agitatorischer Ernst. Der immens belesene Romanist, der an das „Deutschtum“ glaubt und sich von „Marianne“ verraten fühlt, der den Krieg u.a. als Abwehrkampf gegen „Madagassen“ und „Annamiten“ versteht und die Notwendigkeit betont, „das tödliche Fremdgift eines überverstandenen Weltbürgertums“ aus dem deutschen „Volkskörper“ auszustoßen (hier zitiert Nerlich Gerhard Bott, Deutsche Frankreichkunde 1900–1933. Das Selbstverständnis der Romanistik und ihr bildungspolitischer Auftrag 2 Bde. (Rheinfelden: Schäuble, 1982), Bd. 1, 31; 33; 35. (Verf.).), veröffentlicht Broschüren, in denen er unter Berufung auf Fichte die unüberwindbar antagonistischen Wesensmerkmale der Franzosen und Deutschen gegenüberstellt. (Michael Nerlich, „Romanistik“, 419.)
Wir finden z.B. die Titel Eduard Wechssler, Die Franzosen und wir. Der Wandel in der Schätzung deutscher Eigenart 1871–1914 (Jena: Diederichs, 1915); ders., Deutsche und französische Kultur: Mannschaftsvorträge an der Westfront im Dezember 1917. Ein Gruß an die Kämpfer draußen (Marburg: Elwert, 1918) und ders., Der Neuphilologe zu Felde in Frankreich. Ein Gruß aus der akademischen Heimat (Marburg: Elwert, 1918). Ausführlich zu Wechssler und seiner Rezeption in seiner Zeit und danach in der deutschen Romanistik vgl. Susanne Dalstein-Paff, „Eduard Wechssler (1869–1949), Romanist: Im Dienste der deutschen Nation“ (Kassel/Metz, Univ., Diss., 2006), Online-Ressource http://d-nb.info/1004915845/34.↩
Bericht über die Verhaltungen der 17. Tagung des Allgemeinen Deutschen Neuphilologen-Verbandes (A.D.N.V.) in Halle vom 4. bis 6. Oktober 1920 (Halle: Niemeyer, 1921), 20f.↩
Bericht über die Verhaltungen […], Zusammenfassung des Vortrages von Voretzsch, 44.↩
Vgl. Carl Voretzsch, Romanische Philologie und das Studium des Französischen, Vortrag gehalten auf der XVI. Tagung des allgemeinen deutschen Neuphilologenverbandes (A. D. N. V.) in Bremen vom 1. bis 4. Juni 1914 (Halle: Niemeyer, 1915), 10.↩
Voretzsch, Romanische Philologie, 22.↩
Voretzsch, Romanische Philologie, 45. Voretzsch kommt in den nächsten Jahren öfter auf die Frage der Kulturkunde zurück, so z.B. 1926 auf dem XX. Neuphilologentag in Düsseldorf mit seinem Vortrag Philologie und Kulturkunde im neusprachlichen Unterricht an Schule und Universität (Halle: Niemeyer, 1926); er lehnt sie nicht wirklich ab, stellt aber das solide Sprachwissen sowie die Geschichte und Literaturgeschichte weiterhin ins den Mittelpunkt.↩
Am 25. Juni 1919, vgl. Personalakte Lavoipière UAH Rep.11, PA 9931, 6.↩
Am 26. Juni 1919; Personalakte Lavoipière, 6.↩
Personalakte Lavoipière, 6.↩
Personalakte Lavoipière, 13.↩
Die Frage nach der Zukunft des Französischunterrichts in Deutschland wie auch die Rolle französischer Lektoren an deutschen Universitäten diskutiert bereits während des Krieges Oskar Schultz-Gora, „Die Deutsche Romanistik und der Krieg“, Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, Nr. 10 (Berlin und Leipzig, 1916): Sp. 743–750. Zum Französischunterricht in dieser Zeit vgl. auch ausführlicher Maren Kroymann und Dorothea Ostermann, „Beitrag zur Untersuchung des Französischunterrichts von 1914 – 1945“, in Kritik der Frankreichforschung, 1871 – 1975, hrsg. von Michael Nerlich (Karlsruhe: Argument-Verlag, 1977), 144–167.↩
Vgl. Nerlich: „Romanistik“, 425f.↩
Frank-Rutger Hausmann, „‚Ein Haltmachen vor den jüngsten Entwicklungen ist Selbstverstümmelung‘. Die deutsche Romanistik vor und nach dem Ersten Weltkrieg“. In: Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert (Frankfurt a.M.: Fischer, 1999), 273–285, hier 274.↩
Hausmann, „Ein Haltmachen vor den jüngsten Entwicklungen“, 276.↩
Oskar Schultz-Gora, „Die deutsche Romanistik in den letzten zwei Jahrzehnten“, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 141 (1921), 208–221, hier 218.↩
Schultz-Gora, „Die deutsche Romanistik“, 217.↩
Schultz-Gora, „Die deutsche Romanistik“, 212.↩
Schultz-Gora, „Die deutsche Romanistik“, 213.↩
Schultz-Gora, „Die deutsche Romanistik“, 221.↩
Gerade der Gedanke der Erbfeindschaft zieht sich durch weitere Texte Voretzschs, so z.B. hält er zum 18. Januar 1923 die Rede zur Reichsgründungsfeier der Universität Halle mit dem Titel „Jahns ‚Deutsches Volksthum‘ und unsere Zeit“ und sagt zu diesem Anlass:
„Und der heutige 18. Januar sieht uns mitten in dem neuen Verhängnis, das nach dem festen Willen unseres unversöhnlichsten und erbarmungslosesten Gegners,, unser Erwerbsleben vernichten, das deutsche Volk dem allmählichen Untergang preisgeben soll. Diese Weiterführung des Krieges nach dem Friedensschluß mit allen Mitteln der Gewalt und des Rechtsbruchs macht es offenkundig, dass der Krieg nicht, wie unsere Feinde der Welt einreden wollten, nur gegen die politischen und militärischen Machthaber des Deutschen Reichs gerichtet war, sondern gegen das ganze deutsche Volk, das jetzt den schwersten Leidensweg zu gehen hat, den es je in seiner Geschichte beschritten.“ Carl Voretzsch, Jahns ‚Deutsches Volksthum‘ und unsere Zeit, Hallische Universitätsreden 19 (Halle: Niemeyer, 1923), 4.↩
Eintrag „Voretzsch, Karl“, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie online, hrsg. von Rudolf Vierhaus u.a. (Berlin: De Gruyter, 2008), Bd. 10, 310, online: www.degruyter.com/view/db/dbe.↩
Hans Ulrich Gumbrecht, „Romanisten-Tango. Vom Leben und Sterben einer deutschen Vergangenheit“, in: ders., Vom Leben und Sterben der großen Romanisten (München: Carl Hanser Verlag, 2002), 7–23, hier 9.↩
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