Gemma Bovery

Barbara Vinken

Posy Simmonds, Gemma Bovery (London: Cape, 1999; Berlin: Reprodukt, 2011; Paris: Denoël, 2014).

gemma bovery, dt.: gemma bovery: ein sommer mit flaubert, DVD, Regie: Anne Fontaine (Paris: Albertine Prod., 2014).

gemma bovery ist ein Film von Anne Fontaine (2014), der eine Flaubert-Parodie in der Form einer Bildergeschichte von Posy Simmonds (1999) zur Vorlage hat (als Comic zuvor in Fortsetzungen im englischen Guardian erschienen). Simmonds Version und Fontaines Verfilmung scheinen Emma, die hysterische Romanheldin Flauberts, in einer spektakulären Neuinterpretation gründlich zu kurieren. Emmas Schicksal, das so exemplarisch für das 19. Jahrhundert war, scheint sich doch noch zum Guten verkehren zu lassen. So sagt Gemma von sich selbst, dass sie genau das ist, was Mme Bovary nicht war und nicht sein konnte: frei und glücklich. Als Tochter, Ehefrau und Mutter war Emma Bovary nie frei; prompt fiel sie in Ohnmacht, als sie keinen Sohn zur Welt brachte, sondern eine Tochter, die diese Unfreiheit mit ihr zu teilen gezwungen sein wird. Und was die Wörter, die sie aus Romanen kannte, Worte wie „félicité, passion, ivresse“ wirklich bedeuten, musste Emma anders als Gemma im bitteren Unglück des Liebesverrates erfahren, der zu ihrem fatalen Ende führte. Einem Ende, von dem der Leser Gemmas noch eine Ahnung hat, sie selbst in den Bildern von Simmonds und Fontaine aber nicht die Spur.

In gemma bovery wird die Leidenschaft der Heldin nicht fatal; sie wird nicht zum Opfer einer Männerwelt, die, wie Flaubert sagte, zu ihrem Vergnügen frei über Pferde und Frauen verfügt. Zwar stürzt sich auch die Gemma von Posy Simmonds durch den von Flaubert so genial illustrierten Zusammenhang von life style und Erotik in tiefe Schulden. Wie die neue Bovaryverfilmung von Mieke Bal1 ist auch diese gemma bovary vor allen Dingen eine Kritik des Neokapitalismus, in der jeder sich durch Selbstoptimierung selbstentfremdet zur Ware macht.

Das, was neuerdings unter emotional capitalism läuft, wird nicht nur Emma Bovary, sondern auch Gemma Bovery in tiefe Schulden stürzen: wie Emma übt sich Gemma im power shopping. Heute heißt das im Shoppen von intérieurs und dessous, im Aussuchen von guten Restaurants und angesagten Hotel für die Liebe, im strengen Verfolgen von Diäten (du pain light, glutenfrei) und dem richtigen home trainer, der das Hüftgold abschmilzt und den Körper auf die schlanke biegsame Linie bringt, und schließlich kostspieliges Typenstyling. Aber anders als Flauberts Emma erkennt die neue Gemma diesen Zusammenhang von Erotik und life style; und sie erkennt ihre große Liebe als Illusion, von der sie sich verabschiedet. Sie ist dabei, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Im Gegensatz zu Emma Bovary verliert Gemma nicht die Kontrolle. Anne Fontaine bestraft ihre Heldin nicht für ihre Liebe, verdammt sie nicht für ihren Ehebruch. Sie wird nicht wie bei Flaubert in einem neuen kapitalistischen Babylon zu der Großen Hure einer durch und durch prostituierten Gesellschaft.

Emblematisch ein Motiv, die Geschichte des kleinen Cupid. Der Liebesgott Cupido kommt im Film als ein biscuit de Sèvres daher, das unbeschadet drei Revolutionen überstanden hat, nun aber beim Bumsen auf dem Schreibtisch des Vaters ihres ersten Liebhabers auf den Boden fällt und zerbricht; die Kostbarkeit verliert den Kopf. Aber, anders als in Flauberts Roman, wo die Liebe eine fatale Droge bleibt und Eros Thanatos unausweichlich befördert, wird dieser Cupido unverhofft wieder ganz. Als sie ihr Leben und ihre Finanzen in Ordnung bringen will, findet Gemma den zerbrochenen Cupid, das Zeichen ihres Ehebruches, von ihrem eigenen, dem hintergangenen Mann wie wunderbar restauriert. In diesem Moment wird auch die angeknackste Ehe geheilt. Im Unterschied zu Emma liebt Gemma ihren Mann, der, von ihr verlassen, zurück nach London gegangen war. Als sie ihm simst, dass sie ihn liebt und vermisst, macht er sich sofort zu ihr auf den Weg, zurück in die Normandie. Beide wollen sie nun nach London zurückkehren (eine englische Geschichte für die Leser des Guardian).

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1. Liebesgott Cupido in gemma bovery (54:16)

Auch Hervé de Bressigny, Gemmas erster Liebhaber, der Student, der in der Normandie das Erbe seines Vaters antritt und auf dessen Landsitz an seinem Schreibtisch eigentlich nicht Liebe machen, sondern Jura lernen soll, liebt sie, anders als der Rodolphe in Mme Bovary, durchaus. Anders als Emma für Rodolphe ist Gemma für Hervé mehr als nur eine Episode in einer langen Serie von Geliebten; er verdinglicht sie nicht und fragt sich nicht, noch bevor die Liebesgeschichte überhaupt angefangen hat, wie er sie wieder los werden soll. Auch der zweite Liebhaber, der Gemmas Liebe ursprünglich für ein blonderes, dünneres, gesellschaftsfähigeres, kurz: besser gestyltes Liebesobjekt, die typische Londoner socialite, verraten hat, kehrt nach der Scheidung liebend zu ihr zurück und verspricht, sein Leben zu ändern. Bei Anne Fontaine ist Gemma vollends selbstbestimmt in der Liebe; sie verlässt ihren Mann nicht um ihres ersten Liebhabers willen und erklärt ihrem zweiten Liebhaber, ihrer früheren großen Liebe, dass sie nicht mehr ihn und sein aufgeblasenes Ego, sondern ihren Mann liebt.

Wenn Hervé de Bressigny dann doch nicht für ein Liebes-Rendezvous nach London kommt, so nur deswegen, weil seine Mutter ihn einsammelt und nach dem Fiasko mit dem Cupid aus porcelaine de Sèvres kurz entschlossen nach Paris zurück bringt. Im Namen der Liebe zu ihrem Mann überwindet Gemma auch die Versuchung, in die ihr zweiter Liebhaber sie bringt, und kehrt zu ihrem Mann zurück. Hier ist die Liebe keine tragische Verblendung wie bei Emma Bovary, sondern trägt Züge eines glücklichen Erkennens, und die Männer sind nicht per se narzisstische Profiteure von Gottes Gnaden, sondern sie lieben auf ihre (je begrenzte) Art. Die englische Romantik und ihr starkes Frauenbild, könnte man sagen, überwindet in gemma bovery den alt-französischen Moralismus und seine skeptische Einschätzung aller Liebe als fatale Verblendung.

gemma bovery verkehrt also mehr als nur einige Buchstaben des am Buchstaben hängenden Flaubert-Romans; Comic und Film schreiben den grundsätzlichen Fehler Emmas einem anderen als ihr zu. Was immer man als die Hauptsünde Emmas gesehen hat, ist Gemma fremd. Anders als Emma ist Gemma nicht süchtig nach Buchstaben; anders als sie lebt sie nicht ohne jeden Sinn für Realität ein Leben in hysterischen Phantasmen nach der Kunst, um daran grauenhaft in einem bitteren Tod zu scheitern. Gemma ist eine Frau, die wenig liest; es geht ihr nicht darum, das ihr vor-buchstabierte Leben in realer Erfahrung einzuholen. Sie weiß gar nicht, in welchem Roman sie sich befindet. Das ändert zwar nichts daran, dass sie ihr Leben nach den life style clichés der Mittelklasse lebt. Bloß stammen die clichés jetzt nicht mehr aus der Literatur, aus den Romanen des 19. Jahrhunderts, sondern aus life style-Zeitschriften, für die sie selbst zeichnet.

In gemma bovery ist es keine Frau, sondern ein Mann, der das Leben mit der Kunst verwechselt und sich in seinem Leben in den Szenarien der Weltliteratur wiederzufinden glaubt. Der Bäcker, der in gemma bovery der Erzähler ihrer Geschichte ist und sich auch schon für den zukünftigen Drehbuchautor hält, war in seinem wirklichen Leben buchstäblich ein Mann der Buchstaben, ein Lektor für PUF, die Presses Universitaires de France, der Dissertationen lektorierte, die dann doch kein Mensch las, bevor er sich entschloss, mit seiner Familie in das Dorf, in dem er geboren wurde, zurückzugehen. Mit den normannischen Wurzeln übernimmt er die Bäckerei des Vaters und das Erbe der Väter, das patrimoine, in doppelter Hinsicht: die Bäckerei ist sein tatsächliches Erbe, die ihm als Garant eines authentischen, erdverbundenen, wahren Lebens gilt. Aus dieser Erde heraus wuchs in der Nähe von Rouen, wo eben diese Bäckerei liegt, nicht nur das Korn, sondern auch einer der unglaublichsten Texte der Weltliteratur, ein Inbegriff des französischen patrimoine, der Roman von Flaubert.

Brot und Buchstabe, leibliche und geistige Speise, hängen in Fontaines Film wie in Flauberts Roman zusammen. Während dem ehemaligen Lektor die Buchstaben in Paris toter Staub bleiben, werden die Buchstaben in der Normandie lebendig und befördern wie in Flauberts Roman das Begehren. Der Verlagslektor, der zur Tradition seiner Väter, zum Bäckerhandwerk, zurückfindet, sieht sich in die Romane der Weltliteratur versetzt, als deren Drehbuchschreiber oder Autor er sich imaginiert. Wenn er sich am Anfang selbst in Flauberts Roman wähnt und nach Gemmas Tod in der Käuferin ihres Hauses eine neue Anna Karenina zu finden glaubt – eine der stärksten Rezeptionsfiguren von Mme Bovary – dann fühlt man sich im klassischsten alles klassischen Literaturseminare der Komparatistik, in denen diese beiden Werke immer wieder zusammen verhandelt werden. Als das kleine normannische Dorf am Ende von Anne Fontaines Film im Schnee zu einer Art St. Petersburg wird und die neue Besitzerin des Hauses, in dem Gemma so unglücklich starb, blond bezopft und wie eine Babuschka gekleidet, als echte Pariserin die Russin schlechthin inkarniert, ist es kein Wunder, dass der fiktionssüchtige Bäcker auf die Geschichte seines Sohnes hereinfällt, der seinerseits zwar nur Videospiele im Kopf hat, aber sich doch wie nachtwandlerisch im literarischen Kanon auskennt, denn die neuen Besitzer, eröffnet er seinem Vater, hießen Karenin.

Das gelehrt-gebildete Ende des Films zeigt so auch, wie wir alle bis in die Video-Kultur hinein nach den von der Kunst inszenierten, vorgefertigten, klischierten Welten leben. Das Authentisch-Exotische, das alle Welt in der Normandie sucht, ist Inbegriff dieses clichés, dem alle in allen Facetten und in unermüdlichem self styling gerecht zu werden hoffen. Eben dies Exotische, das gleichzeitig das Authentische ist, suchen die Engländer in der Normandie, suchen die Pariser in der Normandie und sucht der wieder zum Bäcker gewordene Lektor. Wie kein anderer Fleck ist die Normandie – von Victor Hugo bis Flaubert, von Manet bis Monet – zum Sinnbild für das französische patrimoine geworden. Für den Bäcker inkarniert es sich im Brot-Backen, denn die Boulangerie ist der Ort, an dem sich alle treffen. Liebe und Brot werden deshalb in gemma bovery wie Liebe und Essen in Mme Bovary eng geführt. Gemma genießt das Brot-Essen wie die Liebe, und die Szene, in welcher der Bäcker Joubert sie den Teig kneten lässt, ist so erotisch besetzt wie die Liebesszenen. Fontaine zeigt sich bis in die Vorliebe für die A-tergo-Position als eine genaue Leserin Flauberts. Als Gemmas Exliebhaber das Stück Brot, das ihr in die Luftröhre gekommen ist, aus ihr herauszubringen versucht, fasst er sie von hinten um die Taille, eine missverständliche Szene nicht ohne eine fatale Ironie. Denn am Brot des Bäckers wird Gemma auch deshalb ersticken, weil ihr zurückkehrender Mann in dem Moment in dem Raum tritt, als der von ihr zurückgewiesene andere ihr das Brot aus dem Leibe zu schütteln versucht, so dass ihr Mann glauben muss, er überrasche sie bei der Liebe – ein unglücklicher Zufall, ein blödes Missverständnis.

In seiner Ironie gewinnt dieser allzu banale, unglückliche Tod eine allegorische Dimension. Tödlich ist in Fontaines Film weniger die Liebe – in diesem Punkt sind Simmonds und Fontaine viel romantischer als Flaubert – als die Sucht aller Modernen nach einem nicht entfremdeten Leben, die Sucht nach dem verlorenen patrimoine, das sie verdammt, es in abgedroschenen clichés nachzuleben. So stirbt, könnte man sagen, Gemma nur scheinbar aus einem unglücklichen Zufall. Denn wenn sie auch nicht dem Patriarchat des 19. Jahrhunderts Flauberts erliegt, so erliegt sie doch dessen ideologischem Rückstand, der Sucht nach einem durch Brot und Buchstaben authentifizierten Leben, das sich im styling erschöpft. Dies Erbe der Väter verdammt dazu, von idées reçues besessen zu sein. Alle möchten in die Bilder fallen, die kursieren, darin selbst zum Bild werden, das sie als Innenarchitekten, Zeichner und Autoren von life style-Magazinen, Schönheitschirurgen und als home maker der Reichen herstellen. Ihr Begehren bleibt das Begehren der Anderen, und das begehrteste der Bilder ist das authentische Leben, zu dessen Genuss man konsumieren muss. Schon Flaubert, so bringen Posy Simmonds und Anne Fontaine heraus, führt dem life style des emotional capitalism die unentrinnbare Clichiertheit dessen vor, was als ein leerer Begehrensrest übrig geblieben ist. Vielleicht kann kein Buchstabe über die Besessenheit vom Ersatz der idées reçues besser aufklären als das, was Flaubert nicht weit von Rouen, in der Normandie, in Buchstaben fasste.

Granville, den 19.8.2015


  1. Mieke Bal und Michelle Williams Gamaker, Madame B: Explorations in Emotional Capitalism, http://madamebproject.com, aufgerufen am 19.8.2015.





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