„Frankophone Germanistik“ in Saarbrücken: Chancen für die Germanistik im deutsch-französischen Grenzraum
Romana Weiershausen
Germanistik an der deutsch-französischen Grenze: Die Konstellation evoziert die ganze Bandbreite in den Beziehungen der beiden Länder. In historischer Sicht liegt darin ein nationaler Antagonismus, der im Fall einer Region, auf die sowohl Frankreich als auch Deutschland Anspruch erhoben, zusätzlich brisant war: Das Elsass, Lothringen und das Saarland spielten bekanntlich hinsichtlich ihrer nationalen Zugehörigkeit eine besondere Rolle in der jüngeren konfliktreichen Geschichte, die im Krieg von 1870/71, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg kulminierte. An die Stelle des Antagonismus ist heute die Zusammenarbeit getreten, aus der sich für beide Seiten interkulturelle Synergien ergeben, und zwar inhaltlich und fachperspektivisch. Im folgenden Beitrag geht es um die Erfahrungen einer grenzüberschreitenden Germanistik im Saarland.
Aus historischen Gründen wurde in Saarbrücken eine auf Frankreich hin orientierte Germanistik-Professur geschaffen, die sich – mit dem Wandel der Situation und der Erfordernisse – im Laufe der Zeit verändert hat. Dies hat zu einem literaturwissenschaftlich ausgerichteten Arbeitsbereich „Frankophone Germanistik“ und zu einem trinational (gleichzeitig in Deutschland, Frankreich und Luxemburg) studierbaren Germanistik-Master-Studiengang geführt. Das Fallbeispiel zeigt, was die deutsch-französische Grenzregion für die Fachentwicklung bringt – nicht nur trotz, sondern gerade wegen des geschichtlichen Bezugs, der von nationalen Konstruktionen geprägt ist. Hier lassen sich für das Teilfach der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, um das es in den folgenden Ausführungen geht, Impulse für eine Alternative zwischen einer Germanistik als Einzelphilologie und einer Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft gewinnen.
1. Hintergründe: Universität und Nation
Will man das Fach in seiner Entwicklung evaluieren, muss man sich zunächst seine historischen Wurzeln vergegenwärtigen. Wesentliche Konstituenten des modernen Universitätswesens gehen auf das 19. Jahrhundert zurück, als die Philologien, wie man sie als Disziplinen heute kennt, institutionalisiert wurden. Wie eng in dieser Anfangsphase die Ideen von Bildung und Nation zusammenhingen, zeigt sich exemplarisch an der Berliner Universitätsgründung. Die Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität wurde in einer Zeit der Krise gegründet, als ein deutscher Staat, der etwa mit der französischen Nation vergleichbar gewesen wäre, eine Utopie war.
Schulen und Gymnasien sind von dem wichtigsten Nutzen für das Land, in dem sie sich befinden. Allein nur Universitäten können demselben Einfluss auch über seine Gränzen hinaus zusichern, und auf die Bildung der ganzen, dieselbe Sprache redenden Nation einwirken.1
Als Wilhelm von Humboldt dies 1809 formulierte, war der Gedanke der sprachlichen Gemeinschaft und der Pflege einer ‚Kulturnation‘ angesichts des Zusammenbruchs des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und der Vorherrschaft Napoleons in Europa auf einem Höhepunkt. In diesem Licht erklären sich auch die Verknüpfungen in Humboldts Schreiben an den preußischen König:
Wenn Ew. Königliche Majestät nunmehr diese Einrichtung förmlich bestätigten und die Ausführung sicherten, so würden Sie Sich aufs neue Alles, was sich in Deutschland für Bildung und Aufklärung interessirt, auf das festeste verbinden; einen neuen Eifer und neue Wärme für das Wiederaufblühen Ihrer Staaten erregen, und in einem Zeitpunkt, wo ein Theil Deutschlands vom Kriege verheert, ein andrer in fremder Sprache von fremden Gebietern beherrscht wird […].2
Die „gehofte Freistatt“ „der deutschen Wissenschaft“ wird mit einer nationalen Idee verbunden.3
Der Diskurs, der vor dem Hintergrund eines Mangels geführt wird – einem noch lange nicht gesicherten staatsrechtlichen Gefüge –, offenbart die performative Dimension, die mitschwingt, wenn hier von einem Deutschland gesprochen wird. In der Forschung ist der Befund längst verallgemeinert worden. So hebt Seyla Benhabib hervor, dass die ‚Einheit‘ einer Nation nur diskursiv erzeugt werde und verweist auf Ernest Gellners These, dass Nationalismus nicht auf der Basis existierender Nationen entstehe, sondern er – umgekehrt – ‚Nationen‘ erst hervorbringe.4 Nationen müssen permanent erzeugt und in der Imagination wachgehalten werden. Für die Konstruktion und Internalisierung einer Gruppenidentität erfülle das Erzählen, so Homi K. Bhabha mit Bezug auf den Historiker Eric Hobsbawm, eine immens wichtige Funktion. Bhabha spricht von „narration of the nation“.5
An der „narration of the nation“ hat auch die Wissenschaft ihren Anteil, speziell wenn ihr Gegenstand dei ‚nationale‘ Kultur ist: Das institutionell beglaubigte, also mit offiziellem Gültigkeitsanspruch ausgestattete Sprechen über Kunstwerke versieht diese mit Deutungen und ordnet sie in Kontexte ein.
In Deutschland ist die Germanistik prädestiniert dazu, in Prozesse nationaler Selbstverortung involviert zu sein. Die Phase, in der das Fach mit Lehrstühlen an Universitäten institutionalisiert wurde, ist bezeichnender Weise die politisch entscheidende Zeit zwischen Fremdherrschaft und Konsolidierung der Nation im 19. Jahrhundert: Die Institutionalisierung begann in der napoleonischen Zeit und reichte über die 1848-er Revolution bis in die Anfangszeit des Kaiserreichs. Ein eindimensionaler Zusammenhang kann für die Fachgeschichte der Germanistik allerdings nicht angenommen werden. Gegenüber der Auffassung, die Institutionalisierung des Fachs sei allein durch die Ideologie des ‚Deutschtums‘ befördert worden, und gegenüber der alternativen Meinung, entscheidend sei stattdessen der offizielle Auftrag der Lehrerbildung gewesen, betont Uwe Meves: „Beide Erklärungsmuster, das politische wie das funktionale, verabsolutieren und generalisieren unzulässig ein Element aus einem Bündel von Faktoren.“6
Bei aller Vielschichtigkeit bleibt festzuhalten, dass in der Gründungsphase der Disziplin das Bemühen um eine Kulturnation, wo man über keine staatliche Nation verfügte, einen bedeutsamen Hintergrund bildete. Im Fortgang des 19. Jahrhunderts, das insgesamt für die moderne Wissenschaftslandschaft prägend wirkte, erhielt auch die deutsche Philologie ihren Zuschnitt als Nationalphilologie – und dies durchaus mit kulturpolitischer Dimension. Bei Literarhistorikern des 19. Jahrhunderts, etwa Julian Schmidt, konstatiert Gisela Brinker-Gabler eine „Modellhaftigkeit hinsichtlich spezifischer deutscher Bildung und Sprache“, die es erlaubt habe, „sowohl eine Abgrenzung nach außen, gegenüber den anderen Nationen“ zu vollziehen, als auch „nach innen, und zwar als […] Verpflichtung auf eine homogene Kultur angesichts einer heterogenen politischen und kulturellen Landschaft.“7
2. „Neuere deutsche Literaturwissenschaft“
Die Fiktion der Homogenität ist längst problematisiert worden, wie auch die kritische Selbstreflexion inzwischen zu den unveräußerlichen Errungenschaften des Fachs gehört. Der Sündenfall der jüngeren Fachgeschichte, nämlich die Erfahrung, wie leicht man sich von der rassenideologischen und nationalchauvinistischen Politik im Dritten Reich hatte in Dienst nehmen lassen, forderte im Wissenschaftsbetrieb der Nachkriegszeit die grundlegende Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis, mit den Methoden und Gegenständen heraus.
Der Aufbruch ist inzwischen selbst Teil des Betriebs geworden. Wichtige Impulse sind aufgenommen worden, haben aber längst kein beunruhigendes Potential mehr. An die Stelle der Homogenitätsfiktion ist ein offensiver Methodenpluralismus getreten, der nicht unbedingt subversiv wirken muss, sondern in der Regel ein intellektuell inspirierendes Teilgebiet innerhalb des Fachs darstellt. Letztlich ungeklärt bleibt die Frage nach der Bestimmung des Gegenstandsbereichs der „deutschen Literaturwissenschaft“. Wie definiert man die Eingrenzung? Hier gibt es unterschiedliche Strategien. Der in Stellenausschreibungen und Selbstdarstellungen von Instituten in Österreich durchaus selbstbewusst ausgewiesene Kernbereich einer österreichischen Literatur steht die Tendenz auf den Homepages deutscher Institute gegenüber, eine nationale Verortung möglichst ganz zu vermeiden: Ein weitgehender Konsens ist der Bezug auf die Sprache – deutschsprachige Literatur –, mitunter aber wird das Problem auch gar nicht angegangen und keine Definition versucht.8
Die oft wenig hinterfragte Wahl der Gegenstände ist deshalb so problematisch, weil sich im Kanon Residuen nationaler Konstruktionen tradieren. An diesem Erbe tragen wir noch, auch wenn zunehmend die Berücksichtigung von Diversität eingefordert wird und der Befund, dass Literatur in den deutschsprachigen Kernländern auch von Autoren und Autorinnen mit anderssprachigem Hintergrund geschaffen wird, inzwischen breite Beachtung findet. Verzögert wird der notwendige Prozess der Gegenstandsreflexion durch die Erfordernisse des Studienalltags. Hier hat die Modularisierung nicht hilfreich gewirkt: Der Zwang, den Studienverlauf und die zu vermittelnden Inhalte stärker zu regulieren, hat vielerorts zu einer Re-Kanonisierung geführt, über die man im Zuge der kritischen Kanondebatten speziell der 1980er und 90er Jahre schon hinaus war.
Eine mögliche Reaktion auf den problematischen Zuschnitt der Einzelphilologien ist die Hinwendung zu einer allgemeinen Literaturwissenschaft. Man mag provozierend fragen, warum man nicht gar die germanistische Spezialisierung in der Literaturwissenschaft ganz abschaffen sollte – etwa nach dem Muster vieler osteuropäischer Universitäten, wo man „Weltliteratur“ als Fach anbietet und die einzelphilologische Differenzierung nur in der Sprachwissenschaft verfolgt. Damit allerdings gingen germanistische (und analog romanistische, anglistische, slawistische…) Kernkompetenzen verloren, derer man nicht nur für den Schulunterricht dringend bedarf. Dieser Bedarf beruht auf zwei Überzeugungen: zum einen der Wichtigkeit einer umfassenden Sprachkompetenz, um Sprachkunst adäquat erfassen zu können, und zum anderen der Bedeutung fundierter gesellschaftsgeschichtlicher Kenntnisse. Literatur entsteht in sehr konkreten Situationen, und der Blick, der davon abstrahiert, läuft Gefahr, gerade das auszublenden, was einen Großteil der Gesellschaftsrelevanz von Literatur ausmacht: nämlich die Auseinandersetzung mit historischen und soziokulturellen Bedingungen sowie den diskursgeschichtlichen Zusammenhängen, die Gesellschaften nachhaltig prägen und die in ihrer Komplexität zu erfassen selbst für eine Sprachgemeinschaft kaum möglich ist, geschweige denn für viele verschiedene in der ganzen Welt.
Ein weiteres kommt hinzu, was ich für den eigentlich entscheidenden Aspekt halte: sich kritisch den diskurshistorisch geformten Konstruktionen des ‚Eigenen‘ zu stellen. Die Aporien im Fach sind eine Chance: ein Ausgangspunkt nämlich für kritische Fragen, die viel weiter führen als nur auf eine intellektuelle Fachdiskussion, indem sie auf Brüche in scheinbar selbstverständlichen gesellschaftlichen Konstruktionen hinweisen. Setzt man sich mit den konkreten problematischen Grenzziehungen einer deutschen Germanistik auseinander, gewinnt man mehr, als wenn man sich auf das – jedenfalls vordergründig – weniger problematische Feld einer allgemeinen Beschäftigung mit Literatur jenseits nationaler Vorsortierungen zurückzöge. Wesentlich ist hier die cultural awareness, die schon Alois Wierlacher in den Anfängen einer Interkulturellen Germanistik im Bereich Deutsch als Fremdsprache stark machte.9 Dazu aber bedarf es einer kontrastiven Perspektivierung. An der Universität des Saarlandes nutzt man hierfür den geographischen Standortvorteil in der deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzregion.
3. Deutsch-französische Germanistik in Saarbrücken
Im Vergleich zu anderen grenznahen Germanistik-Instituten, die sich in jüngerer Zeit um eine europäische Kontextualisierung des Fachs verdient machen (mit Frankreichnähe z.B. Freiburg, Trier u.a.), ist dies im Fall der Saarbrücker Germanistik integral mit ihrer Geschichte verknüpft. Die Gründung der Universität vollzog sich im Saarland in einer Situation der Unentschiedenheit nationaler Zugehörigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Land wirtschaftlich Frankreich unterstellt war, politisch aber eine eingeschränkte politische Autonomie hatte.10 Die Universität wurde 1948 mit französischer Unterstützung eingerichtet, was als Versuch gewertet werden kann, die Zuordnung des Saarlands zwischen Deutschland und Frankreich offen zu halten und die Annäherung an Frankreich zu stabilisieren. Die Konstellation erinnert unter anderem Vorzeichen an den Konnex zwischen Nation und Bildung, der bereits für das 19. Jahrhundert auszumachen war.11 Symbolträchtig ist auch der Ort: Die Universität bezog die Gebäude der ehemaligen Below-Kaserne, die – 1938 erbaut – nach einem deutschen General benannt worden war, der im Ersten Weltkrieg an der Westfront eingesetzt war, und die nach dem Zweiten Weltkrieg kurzzeitig der französischen Armee diente (mit neuem Namen: „Caserne Verdun“).
Die Europa-Orientierung, die neben Nanotechnologie und Informatik eine der drei Hauptsäulen der Universität des Saarlands ist und die vom jüngsten Votum des Wissenschaftsrates Anfang 2014 neu eingefordert wurde, geht also in ihren Anfängen auf die direkte Nachkriegszeit zurück: auf eine Zeit, als gegenseitige Vereinnahmungen versucht wurden, aber auch der Wunsch entstand, nach der katastrophischen deutsch-französischen Vergangenheit eine gemeinsame Zukunft in der Mitte Westeuropas aufzubauen.
Noch heute gibt es vier auf diese Zeit zurückgehende „frankophone“ Professuren, die das Recht haben, offizielle französische Abschlüsse zu vergeben: eine davon in der Germanistik.12 Diese Professur hat einen großen Wandel durchgemacht – von einer „Germanistik für Frankophone“, die sich im Sinne einer Fremdsprachengermanistik an französische Studierende richtete, hin zur „Frankophonen Germanistik“: einer grenzüberschreitenden Germanistik, die in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Saarbrücker Germanistik integriert ist. In diesem Rahmen trägt sie die Kernaufgaben des Teilfachs mit (vor allem Literaturgeschichte vom 17. bis 21. Jahrhundert) und steuert darüber hinaus eine interkulturelle Perspektive in der deutsch- und französischsprachigen Großregion bei.
4. Interkulturelles Lernen in der Praxis: Germanistik als deutsch-französisch-luxemburgisches Studium
Seit 2010 gibt es in Kooperation der Universitäten in Saarbrücken, Metz und Luxemburg13 einen Masterstudiengang, in dem die Idee einer grenzüberschreitenden Germanistik für Studierende greifbar wird. Der etwas umständliche Titel „Literatur-, Kultur- und Sprachgeschichte des deutschsprachigen Raums“ verrät indirekt, über welche Vielfalt möglicher Studienausrichtungen man sich dabei verständigen musste. Der Begriff der „Kulturgeschichte“ etwa, den man in der deutschen Wissenschaftslandschaft eher in Richtung einer kulturwissenschaftlichen Orientierung der Literaturgeschichte akzentuieren würde, verweist auf den stärker geschichtswissenschaftlichen Blick, der einen wichtigen Bestandteil der französischen Germanistik ausmacht.
Auch hinsichtlich der Studienstruktur war Flexibilität erforderlich, wo die Modularisierung der Studiengänge sonst meist eine weitgehende Regulierung nahelegt. Die – von Studierenden geschätzten – Gestaltungsfreiräume hinsichtlich anrechenbarer Kurse und zeitlicher Reihenfolge haben in vielen Fällen pragmatische Hintergründe: Sie sind eine Konsequenz daraus zu gewährleisten, dass sich das an den drei Studienstandorten jeweils etwas anders ausgerichtete Germanistikstudium in die gemeinsamen Module einbringen lässt.
Wesentlich für das Programm ist der Bezug auf einen „deutschsprachigen Raum“, der nicht nur Deutschland, Österreich und die Schweiz umfasst, sondern eben auch die zwei- oder mehrsprachigen Regionen mit Deutsch als einer der Sprachen. Die historische Situation in Lothringen und im Elsass gehört hier ebenso dazu wie die aktuellen Entwicklungen in Luxemburg – und gegebenenfalls die zukünftigen im Saarland.14 Um die Möglichkeit eines Studienschwerpunkts in diesem Bereich zu unterstützen, besteht seit Neuestem eine Zusammenarbeit mit der Mehrsprachigkeitsforschung im Teilfach Deutsch als Fremdsprache in Saarbrücken.15 Spezifische Angebote im literaturwissenschaftlichen Bereich sind Seminare zu deutsch-französischen Literaturbeziehungen. Unter den möglichen Themen ist der Erste Weltkrieg (mit Texten von Alfred Döblin, René Schickele, Yvan Goll, Adrienne Thomas u.a.) nur ein Beispiel, das im Gedenkjahr 2014 besonders naheliegt. Die literaturwissenschaftlichen Studienangebote schließen den Kontakt zum Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass16 ein, das den Studierenden ermöglicht, mit Manuskripten von Schriftstellern und Schriftstellerinnen der Großregion zu arbeiten.
Diese skizzierten inhaltlichen Spezialisierungsmöglichkeiten bilden aber nur einen Teil des Studiums. Inhaltlich versteht sich das Programm als Vollgermanistik in der gesamten Breite. Interkulturell aber ist dies auch – und zwar auf einer anderen Ebene, in der wir das eigentliche Profil dieses trinationalen Masterstudiengangs sehen: nämlich in der Kombination der verschiedenen Fachkulturen in Frankreich, Luxemburg und Deutschland. Dies stellt natürlich besondere Anforderungen an die Studierenden, die sich auf organisatorisch und inhaltlich unterschiedliche Systeme einlassen müssen. Um darauf vorzubereiten, wird von Metzer Seite jeweils im ersten Semester ein Methodenseminar veranstaltet. Es findet als einwöchiges Blockseminar im Literaturarchiv in Marbach statt, um den neu eingeschriebenen Studierenden die Gelegenheit zu geben, sich in gemischten Kleingruppen in der Analyse und Interpretation eines literarischen Textes zu erproben und bei den Präsentationen im Plenum die unterschiedlichen Herangehensweisen zu diskutieren.
Die Hoffnung, dass der Gewinn die Schwierigkeiten des trinationalen Studiums überwiegt, wird uns von Studierenden bestätigt: Die Konfrontation mit anderen „Forschungstraditionen und wissenschaftlichen Hintergründen bei Dozierenden wie auch Studierenden“ sei eine positive, den eigenen Blick erweiternde Erfahrung, findet Franziska Bartosch, die ihr Bachelor-Studium bereits in Saarbrücken absolviert hat, und für Julia Monsees aus Kiel war die Aussicht, vergleichende Einblicke in die Forschungsmethoden in Frankreich und in Deutschland zu erhalten, ein Grund, für das Masterstudium nach Saarbrücken zu wechseln. Sie sieht in diesen Erfahrungen und im trinationalen Masterabschluss „den Schlüssel zur Berufswelt dreier Länder“. Jonathan Watkins aus Philadelphia, der in den USA auf das Masterprogramm aufmerksam geworden ist, betont, angesichts der zunehmenden Globalisierung sei es nötig, „neue Wege zu beschreiten“, und fügt an, er werde „im Länderdreieck im Herzen Europas zum Grenzgänger“: „nicht nur im raumüberschreitenden Sinne, sondern durch meine Zugehörigkeit zu den drei verschiedenen Germanistik-Instituten im Saar-Lor-Lux-Raum“. In jedem Fall gilt – als Vorteil wie als Nachteil –, was Franziska Bartosch klarstellt: „Der Studiengang erfordert selbstständige Organisation und eigenverantwortliches Arbeiten.“ Einfach ist dies sicher nicht immer. Ungewohnt sind nämlich nicht nur einige der wissenschaftlichen Herangehensweisen und Seminarformen, sondern auch Eigenheiten bürokratischer Verwaltungsakte in den jeweils anderen Ländern. Eine studentische Tutorin als Ansprechpartnerin bei Alltagssorgen und ein neu eingerichteter Stammtisch sollen hier helfen.
Komplexer als in üblichen Masterstudiengängen gestaltet sich auch die persönliche Stundenplanzusammenstellung, was an der Möglichkeit, aus den Angeboten der drei Studienstandorte zu wählen, liegt und mit einer weiteren Besonderheit des Programms zusammenhängt. Statt einer vorgeschriebenen zeitlichen Abfolge von Inlands- und Auslandssemestern, was das gängige Modell bei internationalen Studiengängen ist, studiert man hier anders: Man ist in jedem Semester gleichzeitig an allen drei Universitäten eingeschrieben und kann immer aus dem gesamten studiengangsbezogenen Angebot wählen. Möglich ist dies aufgrund der räumlichen Nähe der drei Universitäten. Einige Studierende mit Kind sehen darin eine alternative Möglichkeit, Auslandserfahrungen im Studium zu sammeln, während ein komplettes Auslandsjahr mit erforderlichem Umzug nicht zu realisieren wäre. Es liegt auf der Hand, dass dies mit erhöhten Fahrtkosten einhergeht. Da der Masterstudiengang von der Deutsch-Französischen Hochschule gefördert wird, können die Studierenden Mobilitätsbeihilfen erhalten.
Die Regelung hinsichtlich des Abschlusses ist denkbar einfach, wobei die Entscheidung den Studierenden freisteht: Je nachdem, wo man seine Creditpoints erworben hat (mindestens 30 Punkte müssen es für eine Universität sein), wird der Abschluss national, binational oder trinational ausgestellt.
Es ist klar, dass das Programm noch mehr Potential bereithält. Aktuell arbeiten wir daran, die praxisorientierten Anteile zu verstärken und die Kursangebote, die methodische Einblicke in literaturbezogene Berufsfelder verschaffen, zu erweitern. Im Moment gibt es Methodenseminare zu den Bereichen Archiv und Edition sowie Verlag und Redaktion. Da man mit dem Studiengang auch eine wissenschaftliche Orientierung verfolgen kann, soll auch eine forschungspraktische Veranstaltung (Organisation und Durchführung eines studentischen Fachworkshops) hinzukommen. Ein weiteres Projekt ist anvisiert: Sofern unser gerade gestellter Antrag bei der Deutsch-Französischen Hochschule bewilligt wird, wird zum Masterstudiengang „Literatur-, Kultur- und Sprachgeschichte des deutschsprachigen Raums“ ein zusätzliches forschungsorientiertes Programm hinzukommen. Mit den Kollegen des binationalen Studiengangs „Deutsch-französische Studien“ in Saarbrücken und Metz,17 in dessen Zentrum der Medienbetrieb und grenzübergreifend arbeitende Organisationen stehen, planen wir einen gemeinsamen und in beide Studiengänge integrierten PhD-Track „Interkulturalität in Literaturen, Medien und Organisationen/Interculturalité des littératures, des médias et des organisations“, für den sich Studierende bewerben können, die den Masterstudiengang direkt mit Blick auf eine anschließende Promotion studieren wollen. Rückgebunden an die konkreten Möglichkeiten der Großregion Saar-Lor-Lux sind Interkulturalität und Transregionalismus hierbei produktiv aufeinander zu beziehen: nicht nur hinsichtlich interkultureller Forschungen in einer geschichtsträchtigen Grenzregion, sondern auch im Blick auf die berufliche Qualifikation über Praktika und Kooperationen im deutsch-französischen Raum. Im Moment ist dies noch Zukunftsmusik. Man muss abwarten, welche Chance dem Programm in der derzeitig finanziell angespannten Situation gegeben wird.
Wilhelm von Humboldt, „Antrag auf Errichtung der Universität Berlin: Entwurf vom 12. – 14. Mai 1809“, in Wilhelm von Humboldts politische Denkschriften, hrsg. von Bruno Gebhardt, unveränderter photomechanischer Nachdruck der ersten Auflage 1903 (Berlin: de Gruyter, 1968), 140.↩
Humboldt, „Antrag auf Errichtung“, 140. Dieser Abschnitt bleibt in der tatsächlich eingereichten Fassung vom 24. Juli 1809 nahezu unverändert, vgl. Humboldt, „Antrag auf Errichtung“, 149.↩
Humboldt, „Antrag auf Errichtung“, 140.↩
Vgl. Seyla Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit: Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung, Übers. Ursula Gräfe (Frankfurt a. M.: Fischer, 1999), 20f.; Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Übers. von Meino Büning (Hamburg: Rotbuch-Verlag, 1995), 87.↩
Homi K. Bhabha, „DissemiNation: Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation“, in ders., Die Verortung der Kultur, Vorw. von Elisabeth Bronfen, Übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl (Tübingen: Stauffenburg, 2000), 149–194, hier: 150.↩
Uwe Meves, „Die Institutionalisierung der Germanistik als akademisches Fach an den Universitätsneugründungen in Preußen“, in ders., Ausgewählte Beiträge zur Geschichte der Germanistik und des Deutschunterrichts im 19. und 20. Jahrhundert (Hildesheim: Weidmann, 2004), 335–368, hier: 335. Zur jüngeren Fachgeschichte vgl. z.B.: Zeitenwechsel: Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König (Frankfurt am Main: Fischer, 21996); Germanistik – eine politische Wissenschaft, hrsg. von Klaus-Michael Bogdal, Christoph König, Hans-Harald Müller (Göttingen: Wallstein, 2002); Aktuelle und allgemeine Fragen der germanistischen Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Christoph König und Andreas Gardt (Bern u.a.: Lang, 2003).↩
Gisela Brinker-Gabler, „Vom nationalen Kanon zur postnationalen Konstellation“, in Kanon – Macht – Kultur: Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, hrsg. von Renate von Heydebrand (Stuttgart u.a.: Metzler, 1998), 78–96, hier: 82.↩
Dies wird dadurch befördert, dass in den Beschreibungen der modularisierten Studiengängen nicht die Gegenstände, sondern die zu erwerbenden Kompetenzen im Vordergrund stehen sollen. Ein Beispiel liefert auch die Selbstdarstellung der Saarbrücker Germanistik, die in unserer Internetpräsentation als „sprach-, literatur-, medien- und kulturwissenschaftliche Disziplin“ definiert wird, die „Grundwissen und Grundkompetenzen“ aus den verschiedenen Teilbereichen vermitteln solle, wobei es im Masterstudium mit Schwerpunkt „Deutsche Literaturwissenschaft“ um „historische und systematische Aspekte von Literatur“ gehe. Welche Literatur dabei untersucht wird, wird nicht thematisiert, http://www.uni-saarland.de/campus/studium/studienangebot/az/germ-ba.html; http://www.uni-saarland.de/index.php?id=28931, Zugr. am 5.12.2014.↩
Seitdem hat die kritisch-vergleichende Kulturperspektive in den Literaturwissenschaften zu einem methodischen Innovationsschub geführt, der von der Einflussforschung, über Ansätze des Kulturtransfers und der Histoire croisée (mit entscheidenden Impulsen aus Frankreich) bis zu den Paradigmen der Anerkennung, der Interkulturalität, der Transkulturalität, der Hybridität und der Diversität reicht.↩
Das französische Protektorat bestand seit 1947. Das Saarland wurde 1957 politisch wieder ein Teil der Bundesrepublik (1959 auch wirtschaftlich), nachdem 1955 die saarländische Bevölkerung mehrheitlich gegen das von den Regierungen in Paris und Bonn ausgehandelte Europäische Statut gestimmt hatten, das eine Eigenständigkeit des Saarlandes vorgesehen hatte. Vergleichbar ist die saarländische Universitätsgründung am ehesten mit Mainz, wo die Universitätsgründung nach dem Zweiten Weltkrieg (1946) ebenfalls von französischer Initiative ausging. Dies wurde aber als Wiederaufnahme des Universitätsbetriebs (Einstellung 1798), nicht als Neugründung verstanden, und die Region hatte keinen Sonderstatus, als 1949 die französische Zone aufgehoben wurde.↩
„Das Motiv, in bestimmten Regionen politischen oder kulturellen Einfluss auszuüben, hielt bis ins 20. Jahrhundert an. Die Universität Straßburg (1872) sollte nach dem Krieg gegen Frankreich den deutschen Einfluss in Elsaß-Lothringen stärken. Die Gründung der Universitäten Mainz und Saarbrücken nach dem 2. Weltkrieg durch die französische Besatzungsmacht stand mit den (territorialen) Interessen Frankreichs in Verbindung.“ Lemma „Hochschulstandort“, in Lexikon der Geographie, hrsg. von Ernst Brunotte (Heidelberg: Spektrum Akad. Verlag, 2001), online: http://www.spektrum.de/lexikon/geographie/hochschulstandort/3512&_druck=1, Zugr. am 30.11.2014.↩
Diese Professur ist in der Reihe besonders, weil sie die einzige ist, die sich nicht auf Frankreich-spezifische Gegenstände richtet. Die anderen Professuren liegen in der Rechtswissenschaft (Französisches Öffentliches Recht, Französisches Zivilrecht) und in der frankophonen Romanistik (Französische Literatur im europäischen Kontext).↩
Hier haben in der Anfangsphase Pierre Béhar, Ralf Bogner, Françoise Lartillot, Michel Grunewald und Georg Mein Maßgebliches geleistet. Einige der KollegInnen sind immer noch beteiligt sowie aktuell auch Daniel Kazmaier, Till Dembeck und Ulrich Pfeil. Homepage des Studiengangs: http://www.uni-gr.eu/studieren/grenzueberschreitende-studiengaenge/trinationaler-master-germanistik.html↩
In der Zukunft könnte die Mehrsprachigkeitsforschung in anderer Ausrichtung auch für das Saarland eine besondere Rolle spielen: in der Begleitung des anspruchsvollen langfristigen Ziels einer deutsch-französischen Zweisprachigkeit, das die Landesregierung für das Saarland ausgegeben hat. Zur Darstellung: http://www.saarland.de/frankreichstrategie.htm, Zugr. am 5.12.2014.↩
Leitung: Stefanie Haberzettl. Der Wahlbereich Mehrsprachigkeitsforschung korreliert mit entsprechenden Angeboten in Luxemburg, während in Metz der sprachwissenschaftliche Akzent auf der Übersetzung liegt.↩
Siehe http://literaturarchiv.uni-saarland.de. Dem Engagement von Sikander Singh und Hermann Gätje ist hier besonders zu danken.↩
Hans-Jürgen Lüsebrink und Reiner Marcowitz. Meine Metzer Kollegin im eigenen Studiengang „Literatur-, Kultur- und Sprachgeschichte des deutschsprachigen Raums“ ist Françoise Lartillot.↩
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