Eklektizismus im Avant-propos
Balzacs Erklärung der Erkenntnisform und der Paradigmenwechsel in ‚Geschichtsschreibung‘ und Vorworttradition
Cordula Reichart
Im Juli 1842 legt Honoré de Balzac seinen Avant-propos zur Comédie humaine und damit eines der berühmtesten Vorworte der französischen Literaturgeschichte vor.1 Dem bekannten Avant-propos allerdings gehen nicht nur eine komplizierte Genese und die Frage voraus, ob Balzac die Vorrede selbst verfassen sollte,2 sondern auch zahlreiche weitere Vorworte: kürzere und längere Préfaces zu einzelnen Romanen und auch ein zweites markantes, aber weniger bekanntes Vorwort: seine eigene, unter dem Pseudonym Félix Davin erschienene „Introduction […] aux Études de mœurs au xixe siècle“ von 1835.3 Über Jahre hinweg sah sich Balzac mit Kritik, den bitteren Vorwürfen des Immoralismusverdachts sowie mit der Notwendigkeit konfrontiert, sein wissenschaftlich wie ästhetisch ehrgeiziges Anliegen zu erläutern. Balzacs Avant-propos jedoch soll, wie sein Verleger Pierre-Jules Hetzel treffend formuliert, „à la tête d’une chose capitale“ stehen.4 Während der Verleger damit die für das Jahr 1842 vorgesehene Gesamtausgabe meint, für die er Balzac um ein kurzes, vom Autor selbst verfasstes und signiertes Vorwort bittet,5 verbindet Balzac dies mit der Möglichkeit, sein groß angelegtes Projekt der „poésie de cette histoire du cœur humain“ (10) und den damit verbundenen, nie zuvor dagewesenen Plan der „histoire des mœurs“ (9) zu erklären und zugleich den „reproche d’immoralité“ (14), auf den er bereits mehrfach versucht hatte, zu antworten, endgültig auszuräumen (vgl. 12, 14-5).6 Anders als in den früheren Vorreden äußert sich Balzac also erst im Avant-propos – ausgehend von Anspruch und Versprechen, die der Titel Comédie humaine auslöst – zu dem lange gefassten Gesamtplan seines Werks.7
Aufgrund der expliziten Selbstverortungen des Autors und seiner zahlreichen poetologischen Erklärungen wurden Balzacs Vorreden von Beginn an als wichtig eingeschätzt, nie als bloßes Beiwerk oder auktoriale Leseanweisung gesehen.8 Man geht sogar davon aus, dass sie die Rezeption des Balzac’schen Gesamtwerks sowie seine Wahrnehmung als Realisten maßgeblich gefördert haben.9 Seit der Antike aber kann das Vorwort auch als Ort begriffen werden, an dem der Autor „Einlass zum Herzen“ gibt und gewinnt.10 Ich möchte im Folgenden an Balzacs Umgang mit exemplarischen Parametern der Vorrede (die Vorstellung des Gesamtplans, der Werkidee, die Relaisfunktion zum Werk und zur Kritik) zeigen, wie sich das Avant-propos als exponiert erweist, um jene poetologischen Aspekte des Gesamtanliegens sichtbar zu machen, die die Kritik besonders herausforderten, weil sie dem Leser (noch) verborgen bzw. grundsätzlich entzogen bleiben müssen. Die charakteristische Widersprüchlichkeit – und bisweilen scheinbar zusammenhanglose Subsummierungen – der Balzac’schen Schreibweise sind mehr als ein Stilphänomen.11 Im Avant-propos erklärt Balzac den Eklektizismus vielmehr als die Erkenntnisform, für die er auf dem Gebiet der Romanfiktion und Sittengeschichte eine neue Relevanz und Stufe der Artikulation gefunden hat. Sie rührt an den Kern des eigenen Projekts. Und es fragt sich, inwiefern das nicht weitere Konsequenzen hat, systematische für die poetischen Verfahren, historische für die Vorworttradition. Oder anders gesagt: Balzacs geschickt gegen die immoralité-Vorwürfe der Kritik und subtil gegen die Vorgaben des Verlegers gewendete Handhabe zentraler Charakteristika des Vorworts hat, wie nun näher auszuführen ist, Anteil an der Prägung neuer, moderner Roman- und stilbildender Vorwortkonzepte.
1. Der Einblick in die Gesamtkonzeption: zum Eklektizismus als Erkenntnisform im Avant-propos
„J’ai maintes fois été étonné que la grande gloire de Balzac fût de passer pour un observateur ; il m’avait toujours semblé que son principal mérite était d’être visionnaire, et visionnaire passionné“.12 Baudelaire bringt mit diesen Worten nicht nur einen Wesenskern der „unité de composition“ (7) auf den Punkt, die Balzac im Avant-propos erläutert. Er benennt auch die Problematik, die die zwei großen Achsen seiner Konzeption (Realismus und providentielles Schema) in der Rezeption auslösten. So soll Balzacs „histoire des mœurs“ (9) methodisch in Analogie zu den Naturwissenschaften verfahren, die Gesellschaft in Typen gliedern und durch die Annahme eines dieser zugrundeliegenden „einheitlichen Lebensprinzips“ die gesamte zeitgenössische (soziale) Welt erfassen.13 Der „État social“ (9) wird zum literarischen und wissenschaftlichen Gegenstand, der sich in ähnlicher Weise wie die Natur theoretisieren lässt.14 Doch die diskursive Einbettung des Romanprojekts in die lebenswissenschaftlichen Diskurse und die analytisch-philosophischen Vorgängerdisziplinen zeigen zugleich einen Autor, der in der fiktiven Darstellung des Lebens mit den wissenschaftlichen Diskursen über das Leben konkurriert.15 Balzac zielt darauf, die zu jener Zeit überragenden Bezugswissenschaften zu übertreffen, indem er auch das in sein Programm integriert, was die Natur nicht kennt, für seine Sittengeschichte dagegen wesentlich ist: nämlich die menschlichen „drames“ (9), die „hasards“ (9) und vor allem ihre „passions“ (11). Balzacs (neue) ‚Geschichtsschreibung‘ steht damit notwendigerweise nicht nur zu den Naturwissenschaften in Konkurrenz, sondern auch zur traditionell faktenbasierten Historiografie. Im Gegensatz zu den von außen betrachtenden Natur- und Geschichtswissenschaften entdeckt Balzac eine von innen zu erfassende „[histoire] des mœurs faite d’après la Société elle-même“16 als neues Feld, als eine Lücke in der traditionellen, faktenzentrierten, abend- wie morgenländischen Geschichtsschreibung: „je réaliserais, sur la France au dix-neuvième siècle, ce livre que nous regrettons tous, que Rome, Athènes, Tyr, Memphis, la Perse, l’Inde ne nous ont malheureusement pas laissé sur leurs civilisations“ (11). Im Anschluss an den „abbé Barthélemy“, der am Beispiel des Anacharsis versucht hatte, die griechische Lebensart zu erfassen, greift Balzac mit seinem Romanvorhaben diese „immense lacune dans le champ de l’histoire“ auf (9-10). Auch bei seiner „histoire des mœurs“ soll es nicht um jene „sèches et rebutantes nomenclatures de faits appelées histoires“ (9) gehen, sondern darum, eine dieser zugrundeliegende „philosophie“ (10), ihre verborgenen Gründe, den ihr vorausgehenden Antrieb zu erfassen:
mais, pour mériter les éloges que doit ambitionner tout artiste, ne devais-je pas étudier les raisons ou la raison de ces effets sociaux, surprendre le sens caché dans cet immense assemblage de figures, de passions et d’événements. Enfin, après avoir cherché, je ne dis pas trouvé, cette raison, ce moteur social, ne fallait-il pas méditer sur les principes naturels […].
Gleich eingangs auf das fundierende Prinzip der „unité de composition“ (7) zu verweisen, erweist sich daher als die geschickte rhetorische Strategie eines Autors, der ein Ordnungssystem vorstellt, das zu der historisch-empirischen Episteme des 18. und frühen 19. Jahrhunderts auf Distanz geht. Nirgends wird dies deutlicher als am Beispiel des Verfahrens der platonisch-mystisch-philosophischen Tradition, die Balzac an dieser Stelle als Vorbild benennt: die (hermetische) Erkenntnisform des Eklektizismus. Unter dem Verweis, dass das Konzept nicht erst in der eigenen Zeit Konjunktur habe, löst er dieses (wieder) aus den Debatten der eigenen Zeit heraus, bevor er es auf das eigene Romanvorhaben überträgt: „Ce serait une erreur de croire que la grande querelle qui, dans ces derniers temps, s’est émue entre Cuvier et Geoffroi Saint-Hilaire, reposait sur une innovation scientifique. L’unité de composition occupait déjà sous d’autres termes les plus grands esprits des deux siècles précédents. En relisant les œuvres si extraordinaires des écrivains mystiques qui se sont occupés des sciences dans leurs relations avec l’infini, tels que Swedenborg, Saint-Martin, etc.; et les écrits des plus beaux génies en histoire naturelle, tels que Leibnitz, Buffon, Charles Bonnet, etc. […] Pénétré de ce système bien avant les débats auxquels il a donné lieu, je vis que, sous ce rapport, la Société ressemblait à la Nature“ (7-8).17
Der Sache nach bedeutet das: Neu ist weder das zugrundegelegte (aufklärerische) Erkenntnisverfahren des Eklektizismus noch dieses analog auf andere Bereiche zu übertragen. Neu ist, dass Balzac es nicht (nur) auf historisches Material – was es ebenfalls schon gab –, sondern auf die eigene Zeit und zeitgenössische Gesellschaft anwendet: „sur le vif avec tout son bien et tout son mal“ (12). Das kann man als Antwort lesen auf eine durch die nachrevolutionären sozialen Umschichtungen bedingte sozialphilosophische Interessensverlagerung vom Individuum zum gesellschaftlichen Ganzen, auf ein „Defizit an Sozialgeschichte“, das dieser Wandel zutage fördert.18 Offenheit ist das notwendige Strukturprinzip der Modellierung einer gesellschaftlichen ‚Ordnung‘, die als bewegt zu gelten hat, den Zufall zum „plus grand romancier du monde“ (11) erklärt. Das heißt zugleich, dass die zugrundeliegende Philosophie, die Prinzipien, der „sens caché“ (11), erst nachträglich, nach und nach, erfasst werden können. Und es bedeutet auch, dass das, was sich als Kennzeichen eines widersprüchlichen Stils,19 als „Chaos“ oder als „Synkretismus“ der Philosopheme, Wissensformen und Diskurse präsentiert,20 den Kern eines philosophisch-hermetisch fundierten Eklektizismus ausmacht, der die Erkenntnisform für die Transzendierung der Geschichte auf die ihr zugrundeliegenden (universellen) Prinzipien darstellt.
Der Autor schreibt sich als „secrétaire“ (11) (im Wortsinn der ,Geheimschreiber‘) die Rolle desjenigen zu, der als Einziger das ,secretum‘, den „sens caché“ (11), kennt und das „,abgesonderte Wissen“ vor dem „Zugriff Unbefugter“ schützt.21 Dieser Anspruch hat dazu geführt, von Balzac als dem „Mystagogen“ zu sprechen; verbunden ist damit die Bekräftigung der eigenen auktorialen Funktion, denn niemand anderes als der omnipräsente Erzähler ist es, der den Leser mithilfe von „indexikalischen Zeichen“ in der Deutung der von „unsichtbaren Ursachen“ bestimmten Ereignisse führt.22 Ist eine Sinn- und Einheitsstiftung aber erst im nachhinein möglich, erweist sich die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Fiktion, bzw., nach der Leistung und dem Mehrwert, den eine fiktive Modellierung historischer und sozialer Ereignisse hat, als grundlegend.23 Erst die Fiktion ermöglicht die (nachträgliche) „unité de composition“ (7), diese wiederum verhindert, dass nur eine „face de la vie“ abgebildet wird: „Mais comment rendre intéressant le drame à trois ou quatre mille personnages que présente une Société ? comment plaire à la fois au poète, au philosophe et aux masses qui veulent la poésie et la philosophie sous de saisissantes images ? Si je concevais l’importance et la poésie de cette histoire du cœur humain, je ne voyais aucun moyen d’exécution ; car, jusqu’à notre époque, les plus célèbres conteurs avaient dépensé leur talent à créer un ou deux personnages typiques, à peindre une face de la vie“ (10). Die eklektische Korrelation von Poesie, Philosophie und „saisissantes images“ ist dabei meines Erachtens mehr als ein Nebenaspekt des Avant-propos. Der von Balzac erwähnte deutsche Theoriekontext der hermetischen Tradition (Goethe, Leibniz) darf als grundlegend für den philosophisch-dichterischen Eklektizismus angesehen werden. Für den französischen Roman des Realismus scheint er sich als ausgesprochen fruchtbar zu erweisen.24 Diese Korrelation kann folglich als poetologischer Brennpunkt begriffen werden, der sich in die Tradition der von Balzac eingangs angeführten hermetisch-philosophischen Fundierung der „unité de composition“ (7) in der perennierenden Philosophie des Eklektizismus fügt. Sie mag als Andeutung einer Erkenntnisstrategie gelten, mit der es gelingt, die Geschichte auf die zugrundeliegende Prinzipien zu transzendieren, ja jene „Histoire secrète“ sichtbar zu machen,25 die buchstäblich mit den Augen zu erfassen ist: „À travers toutes les fondations qui se croisent ça et là dans un désordre apparent, les yeux intelligents sauront comme nous reconnaître cette grande histoire de l’homme et de la société“.26
2. Die Präsentation der Werkidee als histoire secrète: das Herzstück der neuen ‚Geschichtsschreibung‘
Der Avant-propos gibt Balzac auch Gelegenheit, zu präsentieren, was dem Leser, normalerweise, verborgen bleibt, wie beispielsweise die Idee des Werks:
L’idée première de la Comédie humaine fut d’abord chez moi comme un rêve, comme un de ces projets impossibles que l’on caresse et qu’on laisse s’envoler ; une chimère qui sourit, qui montre son visage de femme et qui déploie aussitôt ses ailes en remontant dans un ciel fantastique. Mais la chimère, comme beaucoup de chimères, se change en réalité, elle a ses commandements et sa tyrannie auxquels il faut céder. (7)
Balzac präsentiert die Idee der Comédie humaine als Traum und in Gestalt einer romantischen Chimäre. Metaphorisch schließt die Stilisierung, zumindest auf den ersten Blick, explizit an die Tradition der Romantik an. Allerdings, und das ist der Unterschied zur romantischen Konzeption, „la chimère […] se change en réalité“ (7). Hinter der von der Forschung als romantische Schwärmerei, als romantischer Diskurseinschuss disqualifizierten Rede liegt mehr als der Verweis auf den Epochenwechsel von der Romantik zum Realismus.27 Es ist die Beziehung zum Werk, die parallelisiert ist mit einer real gewordenen Liebeschimäre.28 Sie ist Ausdruck der eigenen Imaginations- und Produktionskraft – und romantisch verrätselt. Intertextuell könnte man diese sich verflüchtigende, phantastische Liebeschimäre mit Chateaubriands Darstellung der Sylphide in Verbindung bringen.29 Sie zeigt sich sogleich, das macht die im obigen Zitat ersichtliche erotische Stilisierung unmissverständlich deutlich, in den Termini von (männlichem) Liebhaber und begehrter Frau. Wenn man so möchte, gibt Balzac hier vor dem Hintergrund der Beziehung des Autors zum Werk (s)eine – nicht ganz einfache – Liebesgeschichte zu erkennen.30 Unschwer lässt sich diese im Text an zahlreichen semantischen Versatzstücken weiterverfolgen („que l’on caresse et qu’on laisse s’envoler“, „qui sourit, qui montre son visage de femme“, „tyrannie“, „bataille“, „intime“, „courage“, „embrasse“, „pénétration“, „Désir“ etc.). Mit der Veröffentlichung der „idée première“ (7) im Vorwort stellt Balzac die „liaison“ (11) nicht nur ins Zentrum und in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Realisierung des Werks. Er verweist damit, durchaus im mehrfachen Wortsinn, auf das Herzstück des Werks.
Doch, wenn Balzac über die bekannte Intertextualität Einblick gibt in die persönlichen Beweggründe, grenzt er sich dennoch grundlegend von der Herzensaussprache in der Tradition Rousseaus ab. Er zielt nicht unbedingt nur auf die ästhetisierte Entblößung des „wahren“ Ich.31 Ihm bietet die Veröffentlichung dessen, was dem Leser normalerweise entzogen bleibt, die Werkidee, vielmehr die Gelegenheit zu theoretisieren, was in den Texten poetisch umgesetzt ist: die Bedeutung, die das „Verborgene“ für seine Geschichtsschreibung spielen wird. Und er tut dies just im Anschluss an jenen Autor – Chateaubriand –, von dem er das Konzept übernimmt.32 Das Öffentlichmachen der Werkidee ist – bedingt durch die Metaphorik, die erst entziffert werden muss – per se mit dem verbunden, was aller Öffentlichkeit strukturell entgegensteht: dem Geheimnis.33 Vielleicht darf man daher sagen, dass sich an dieser Stelle des Avant-propos aus gutem Grund verdichtet, was Balzac in den Illusions perdues auf den Begriff der „Histoire secrète“ bringt: eine „Histoire secrète, où sont les véritables causes des événements, une histoire honteuse“, die sich als Gegenentwurf zur „Histoire officielle, menteuse, qu’on enseigne“ versteht.34
Oder anders und von diesem Argument abstrahierend gesagt: In nuce erhält diese romantisch-leidenschaftliche Liebesmetaphorik einen beträchtlichen Teil des ästhetischen Programms. Am Beispiel der „idée première“ (7) der Comédie humaine gibt der Autor Einsicht in die Konzeption der „histoire du cœur humain“ (10), die in der prinzipiellen Entzogenheit des Anderen (hier: der Frau) und ihrer leidenschaftlichen Beweggründe zudem durchlässig wird auf eine Soziabilität in moralistischer Tradition.35 In der „liaison“ zum Werk/zur Frau zeigt Balzac das Funktionieren seiner Metaphern – und das gleichnamige Prinzip der nachträglichen Einheitsstiftung – auf.Gezielt spielt die Passage mit der performativen Semantik des Loslassens („laisse s’envoler“), die im Kontrast steht zu der, im Verlauf des Avant-propos rekurrenten, Semantik des Ergreifens (von „caresse“ über „l’assise“ über „saisir“ bis zum finalen „embrasser“). Allerdings lässt der Autor, der wiederholt und in den verschiedensten Variationen etwas ,ergreift‘, von Beginn an in der Schwebe, ob die imaginative Liebkosung mehr der Frau oder der Realisierung des Werkprojekts gilt: „L’immensité d’un plan qui embrasse à la fois l’histoire et la critique de la Société, l’analyse de ses maux et la discussion de ses principes“ (20). Mit seiner leidenschaftlichen Zeige-Metaphorik weist der Text auf die Hand des Autors,36 zugleich aber auf das, was Balzac als „saisissantes images“ (10) bezeichnet und in der Präsentation der ergriffenen Werkidee bereits poetisch-poetologisch umsetzt. Im Hintergrund steht der Plan, so Balzac selbst, es dem Publikum und den Vertretern verschiedener Disziplinen vom Dichter zum Philosophen Recht zu machen, sowie die Erkenntnis, dass die Kunst der Literatur repräsentationsästhetisch überlegen ist: „La littérature est peut-être, sous ce rapport, au-dessous de la peinture“ (17). Immer wieder spricht Balzac daher von dem „tableau de la Société“ (12), von dem „grande image du présent“ (10) oder von „fresque“ (14). Im Bild also könnten die Kontrasthaftigkeit der Gesellschaft und ihre Bewegtheit im Ganzen anschaulich werden. Balzacs Überlegungen stehen in dieser Hinsicht im Einklang mit Befunden der neueren Forschung zum sozialen Imaginären, die davon ausgeht, dass das Anschauungsvermögen von Bildern und die klassische Einbildungskraft nötig sind, um die „soziale Synthesis“ darzustellen.37
Balzacs Metaphorik der Liebkosung erhebt das „ergreifende Bild“ (der ergriffenen Liebeschimäre) buchstäblich zum poetologischen Nukleus des Werks. Gezeigt wird eine ebenso immense wie leidenschaftliche Produktions- und Einbildungskraft, die, wie Balzac sagt, „ergreifende Bilder“, jene zur Beigeisterung des Massenpublikums eingesetzten „saisissantes images“ (10) zu modellieren versteht. Sie machen die Geschichte spannend; die verrätselte, romantische Metaphorik der „chimère qui sourit, qui montre son visage de femme et qui déploie aussitôt ses ailes en remontant dans un ciel fantastique“ (7) selbst bringt zum Ausdruck, wie sie, im Gegensatz zu dem bloßen Faktischen, die Geschichte hinter der Geschichte fiktiv erfassbar werden lassen, Wahrheit und Recht an Details offenbaren, Kontraste38 ebenso wie die Bewegtheit widerspiegeln und Einblick geben in die Unergründbarkeit der „passion“ als menschlichem Antrieb schlechthin. In Balzacs Vorrede enthält die Metapher der eigenen Einbildungs- und Produktionskraft deswegen nicht nur einen Hinweis auf die Realisierung des Traums und die Entfaltung des Werks. Sie entfaltet ihre Wirkmacht vor allem, weil sie Einblick gibt in das Innere (des Werks – und Autors?) und dabei die leidenschaftliche Imaginationskraft als Kennzeichen von Balzacs persönlichem, chaotischem Stil zum Ausdruck bringt,39 ja diesen zu einem einheitsstiftenden Moment macht. Balzacs literarische Bildlichkeit setzt das visionäre poetologische Anliegen um: Sie stellt vor Augen, was auch durch Kritik nicht zu verhindern ist: „on ne peut empêcher la vue, le langage et le jugement s’exercer“ (15). In der Dialektik von Sprache und erotisiertem Bild wird eine „Geschichte hinter der Geschichte“ erkennbar, in ihrer imaginativen Kraft wird – wie es Wolfgang Iser einmal für den etwas späteren Walter Pater formuliert – die „Entwertung des Faktischen zugunsten der Sehform des Stils“ zur Anschauung gebracht.40
In der Vorrede – insbesondere an der Präsentation der Werkidee – wird klar, inwieweit Balzac seine Metaphorik als einen dialektischen, differenziellen Prozess versteht, d.h. als Inbegriff einer performativen, offenen, aber historisch konkreten Interaktion zwischen Individuen und Gesellschaft, zwischen Individuum und Dingen, zwischen den Wissensdiskursen und der Ergänzung der Fiktion und Sprache des (erzählenden) Subjekts.41 Wenn der Autor mit der Präsentation der Werkidee Einblick gibt in (s)eine „Geschichte des menschlichen Herzens“, dann weist er in der Art der Metaphernbildung in die Zukunft des modernen Gesellschaftsromans – und des modernen Vorworts.
3. Das Vorwort als Schwellentext: das Ende des klassischen Vorworts als Beginn der modernen Literaturkritik und -theorie?
Balzacs Avant-propos zur Comédie humaine steht in einem signifikanten Spannungsverhältnis zwischen Vorausverweis und Nachträglichkeit. Das heißt im Sinne der gängigen Vorworttypologien: Balzacs Avant-propos zur Gesamtausgabe ebenso wie sein erstes Vorwort zu den Études de mœurs stehen in der Tradition der sogenannten „préfaces ultérieures“.42 Historisch nehmen diese in der Regel mit persönlicher Verve retrospektiv geschriebenen Vorreden, deren Hauptanliegen es ist, die eigenen Ideen gegenüber der Kritik zu rechtfertigen, in den berühmten Querelles im siècle classique ihren Anfang,43 namentlich bei den für Balzac vorbildlichen und bezeichnenderweise im ersten Absatz des Textes genannten Autoren Corneille und Molière. Obsolet werden die nachträglichen Vorworte, so Gérard Genette, ab dem 19. Jahrhundert, da es nicht mehr nötig sei, Textkorrekturen zu erörtern oder sich gegen moralische, politische und literarische Vorwürfe zu wehren.44 Doch noch bei Balzac sind die wiederkehrenden Vorwürfe der immoralité der Grund für die „déclaration“ (14). Gleich zu Beginn des Textes markiert die formelhafte Wendung „il est nécessaire“ (7), dass der Verfasser die zentrale Position des Vorworts dazu nutzt, den Gesamtplan des Werks zu erläutern;45 schließlich stellt Balzac den „reproche d’immoralité“ (14) und die Verteidigung dagegen expressis verbis ins Zentrum seiner Argumentation: „Les écrivains qui ont un but […] doivent toujours déblayer le terrain“ (14).
Nur auf den ersten Blick präsentiert sich Balzacs Avant-propos daher als ein Vorwort, das, im Sinne der Überleitung zu Werk, verdeutlicht, warum und wie das Werk zu lesen ist:
En donnant à une œuvre entreprise depuis bientôt treize ans le titre de La Comédie humaine, il est nécessaire d’en dire la pensée, d’en raconter l’origine, d’en expliquer brièvement le plan, en essayant de parler de ces choses comme si je n’y étais pas intéressé. Ceci n’est pas aussi difficile que le public pourrait le penser. (7)
Das Vorwort dient nicht allein der Erklärung und Verteidigung der eigenen poetologischen Ziele. Es ist zugleich und vor allem Austragungsort einer Auseinandersetzung mit der Kritik, oder besser: der Kritik dieser Kritiker, die das Grundprinzip und die Neuartigkeit seines Projekts falsch verstanden haben. Schon ein zweiter Blick zeigt, dass der Autor hier mit keinem Wort auf den einzelnen Leser zielt. Von Beginn an richtet Balzac seine Vorrede – in einem teilnahmslosen, flüchtigen Stil – an „le public“ und damit an Leser wie Kritiker. Explizit sucht das Vorwort den Dialog mit der öffentlichen Sphäre: Diese kritische Öffentlichkeit ist es auch, die am Ende (!) über das Romanprojekt und den im Titel benannten Anspruch einer Comédie humaine entscheiden soll: „C’est ce que, l’ouvrage terminé, le public décidera“ (20).
Indem sich Balzac explizit gegen die wiederkehrenden immoralité-Vorwürfe wendet, schreibt er sich in eine ,klassische‘ Vorworttradition ein, die er implizit jedoch schon mit seinem ersten Satz verabschiedet. Denn in einem ganz wesentlichen Aspekt, der sich in der Art und Weise des Umgangs mit der Kritik verdichtet, unterscheidet sich Balzacs Avant-propos von Vorworten des bei Genette beschriebenen Typs. Er gibt den vielleicht deutlichsten Hinweis auf einen bei ihm anzusetzenden Wechsel vom klassischen zum modernen Vorwort: Trotz wiederholter „injustes attaques“ (20) ist Balzac seitens der Zensur kein Prozess im Sinne seiner Vorgänger im siècle classique gemacht worden. Er reagiert mit dem Avant-propos daher nicht nur auf die zeitgenössischen „critiques essentiellement passagères“ (14), den „reproche d’immoralité“ (14) und die vom Verleger geforderte Vernichtung früherer „préfaces publiées“ (14). Er nimmt vielmehr mit seinen theoretischen Erklärungen weitere Kritik selbst vorweg. Was hier als neuer Bestandteil der Romanpraxis benannt wird, die „discussion de ses [de l’immensité d’un plan bzw. de la Société] principes“ (20), rückt die Vorrede explizit ins Zentrum. So sollen die ausführliche Selbsterklärung und die erstmals einheitliche Begründung des Gesamtplans im Vorwort zur édition complète die immoralité-Vorwürfe endgültig beenden.46 Hinzu kommt: „[L]’étendue des prémisses“, wie er es nebenbei formuliert, „pouvaient être à elles seules un ouvrage“ (12). Das bedeutet: Balzac, der vorgibt, „brièvement“ den Gesamtplan erklären zu wollen, widersetzt sich im Avant-propos der vom Verleger erbetenen „brève explication de la chose écrite“.47 Stattdessen erfolgen die theoretische Selbstreflexionen in einer Breite, die das klassische Vorwort beendet, indem es dieses – durch die detaillierte „discussion“ der eigenen Grundsätze – gleichsam zu einem eigenen ‚Buch‘ macht. Vielleicht kann man also sagen, dass damit – ebenso wie durch die erstmals bei Balzac im großen Stil anzusetzende Multiplikation von Vorreden – der modernen Literaturkritik und -theorie, die sich in der Folge stets in einem separaten Werk artikuliert – und sich dann immer stärker vom Werk entfernt – der Weg bereitet wird?
Es ist zu überlegen, ob sich nicht mithilfe dieser Aspekte bei Balzac ein Schnittpunkt der Vorworttraditionen markieren und zugleich ein neuer Vorwort-Typus beschreiben lässt, um den sich die Typologie von Genette ergänzen ließe. Denn mit der Wendung hin zu einer ausführlichen literarischen Selbstkritik und theoretisch fundierten poetologischen Selbsterklärung verlagert sich die traditionelle Rolle des Vorworts als Schwellentext zum Werk hin zur Schwelle vom Werk und zur Rede über das Werk. Kurzum: Mit einer bis dato so nicht gekannten Ausführlichkeit der Selbsterklärungen, die die wesentlichen Punkte zahlreicher, kleinerer, vorausgehender Vorworte subsummieren, der ausdrücklichen Antizipation potentieller Kritikpunkte und der Diskussion der Romanprinzipien markiert die Balzac’sche Vorrede die Wende zur modernen Literaturkritik und Literaturtheorie. Balzac beschließt mit seinem Avant-propos die klassische Tradition der Vorrede, indem er sie zugleich öffnet für das, was in der Folge für das moderne Vorwort charakteristisch sein wird, nämlich die prinzipiell unabschließbare theoretische und (literatur-)kritische Rede über das Werk: Tatsächlich hat nach den Romantikern und Balzac die „Zerstörung der schönen Rede“ in Form von „Metapoetik[en]“ im 19. Jahrhundert kaum mehr Konjunktur.48 Vorworte finden ihr – zumindest vorläufiges – Ende.49 Erst Ende des 19. Jahrhunderts bzw. im frühen 20. Jahrhundert verfassen prominente Autoren wieder Vorworte. Diese jedoch sind längst keine Vorreden im traditionellen Sinne mehr: Émile Zolas Artikel über den Roman expérimental, die eine Art Vorwort zum Zyklus der Rougon-Macquart darstellen, oder Marcel Prousts ursprünglich als Vorrede zu seiner Ruskin-Übersetzung Sésame et les lys publizierten Schrift Sur la lecture, in der er rezeptionsästhetische und literaturtheoretische Überlegungen anstellt. Das poetologische Programm dieser Texte zeigt die veränderte Vorwortpraxis an. Am offensichtlichsten tritt sie in Henry James’ Prefaces zutage; die kurz vor dessen Tod entstandenen, unvollendet gebliebenen Vorworte zur New Yorker Ausgabe seiner Erzählungen werden, als Werk für sich genommen, zu einem der zentralen Referenzpunkte der Literaturkritik und modernen Literaturtheorie im 20. Jahrhundert.50
Honoré de Balzac, „Avant-propos“, in Comédie humaine, hrsg. von Pierre-Georges Castex, 12 Bde., Bd. 1: Études de mœurs: Scènes de la vie privée (Paris: Gallimard, 1976–1981), 7–20. Folgezitate aus dem jeweils selben Text werden mit Seitenzahlen im Artikel belegt. Zitate aus der Comédie humaine mit der Sigle CH beziehen sich auf die genannte Ausgabe.↩
Balzac wollte zunächst strikt keine neue Préface schreiben. Er bat darum, die alte, mit Félix Davin gezeichnete Vorrede von 1835 wiederabzudrucken oder das Vorwort gleich ganz an Schriftstellerkollegen zu delegieren, an Charles Nodier oder George Sand etwa, die absagten. Den von Pierre-Jules Hetzel vorgeschlagenen Hippolyte Rolle hingegen lehnte Balzac ab, was wiederum der Verleger zum Anlass nahm, auf einer von ihm selbst verfassten und signierten Einführung zu beharren, s. Madelaine Fargeauds „Introduction“ zum Avant-propos, CH I: avant-propos, 3–6, hier 4.↩
Vgl. hierzu Fargeaud, „Introduction“, 3 sowie die „Notice“ von Anne-Marie Meininger zur „Introduction par Félix Davin aux Études de mœurs au xixe siècle“, CH I, 1143–4 und 1145–72.↩
Madeleine Fargeaud rekapituliert in ihrer „Introduction“ zu Balzacs Avant-propos die Genese des Vorworts und gibt die entsprechenden Stellen aus Balzacs Briefwechsel mit Pierre-Jules Hetzel zur Frage, wer das Vorwort schreiben soll, wieder: „Il est impossible de reproduire ces préfaces signées Félix Davin. Elles ont le tort d’avoir l’air écrites en grande partie par vous et signées d’un autre. Je les trouve en cela extrêmement maladroites. Leur effet, à la tête d’une chose capitale comme notre édition complète, serait détestable. […] Un résumé, une brève explication de la chose écrite, signée par vous, ce qui implique une grande sobriété, une mesure très grande, voilà ce qu’il faudrait“, Fargeaud, „Introduction“, 4.↩
Fargeaud, „Introduction“, 4.↩
Zu diesem „reproche d’immoralité“ der Kritik, s. die Erläuterungen zum Avant-propos, CH I, 1110 und 1132. Die Immoralismus-Vorwürfe richteten sich insbesondere gegen die für das erzählerische Gesamtpanorama notwendige Fokussierung menschlicher Laster und negativer Triebkräfte, gegen eine Dominanz des „mal“ gegenüber der Tugend (14–5). Zur Zeit der Abfassung des Vorworts sind sie in vollem Gange, ihren Höhepunkt erreichen sie 1864 als die Kirche die Comédie humaine auf den Index setzt, die Literaturkritik das Werk dagegen bereits wesentlich wohlwollender beurteilt. Zu Balzacs Vorwort im Kontext der Immoralismusprozesse im Frankreich des 19. Jahrhunderts, s. Klaus Heitmann, Der Immoralismus-Prozeß gegen die französische Literatur im 19. Jahrhundert (Bad Homburg, Berlin und Zürich: Gehlen, 1970), 30–1, hier 31.↩
Die Erläuterung des Gesamtplans war eine Ankündigung des Prospekts zur Comédie humaine im Jahre 1841, CH I, 1110. Erst hier stellt er sein „œuvre entreprise depuis bientôt treize ans“ (7) im Ganzen vor.↩
Grundlegend zur Vorworttheorie etwa Jacques Derrida, „Hors livre, préfaces“, in Jacques Derrida, La Dissémination (Paris: Éditions du Seuil, 1972), 7–68 sowie Gérard Genette, Seuils (Paris: Éditions du Seuil, 1987), 221–8.↩
Hierzu aufgrund der Wissenschaftlichkeit der Aussagen: Joachim Küpper, Balzac und der ,effet de réel‘ (Amsterdam: B.R. Grüner, 1986), 27–37.↩
Zum Rede- und Wirkziel einer Einleitung im Sinne der antiken Rhetorik, s. Marcus Fabius Quintilianus, Institutionis oratoriae = Ausbildung des Redners, 2 Bde., hrsg. von Helmut Rahn (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988), Bd. 1, Buch 4, 5, 407 (Zitat), ähnlich im Sinne der modernen Autortheorie: Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft: über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit (Paderborn: W. Fink, 1981), 7–17.↩
Balzacs widersprüchlicher, chaotischer Stil ist ein Gemeinplatz der Forschung wie der Kritik, vgl. Ernst Robert Curtius, Balzac (Bonn: Friedrich Cohen, 1923), 431.↩
Zitiert nach Charles Baudelaire, „Théophile Gautier“, in Œuvres complètes II, hrsg. von Claude Pichois (Paris: Gallimard, 1976), 120.↩
Wolfgang Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaft: zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac (Tübingen: Gunter Narr, 1990), 185 sowie 220–31. Nach Matzat entspricht das vitalistische Gesamtkonzept der philosophischen Fundierung der Comédie humaine, es richtet sich gegen die an der Oberfläche verharrende analytische Philosophie des 18. Jahrhunderts und den Leidenschaftsdiskurs der Romane des 18. Jahrhunderts. Zur Bedeutung der Sozialgeschichtsschreibung bei Balzac, s. ferner Bernd Auerochs, Erzählte Gesellschaft: Theorie und Praxis des Gesellschaftsromans bei Balzac, Brecht und Uwe Johnson (München: W. Fink, 1994).↩
Der Bezug auf die Natur ist Programm. Er resultiert aus Balzacs Auseinandersetzung mit der Sozialphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich in Abgrenzung zum Naturrecht formierte. Dies pointiert nachvollzogen hat Auerochs, Erzählte Gesellschaft, 17–29.↩
Im Anschluss an Erich Auerbach, Mimesis: dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Bern: Francke, 1946) hat die romanistische Forschung zu Balzacs Gesellschaftsprojekt den Bezug von (Lebens-)Welt und Text ins Zentrum der Theoriebildung gestellt und dabei zu den Interaktions- und Reproduktionsmechanismen der einzelnen Wissensdiskurse, auf die sich Balzac beruft, grundlegende Befunde hervorgebracht, vgl. etwa Hans Robert Jauß, „Nachahmungsprinzip und Wirklichkeitsbegriff in der Theorie des Romans von Diderot bis Stendhal“, in Nachahmung und Illusion, hrsg. von Hans R. Jauß (München: W. Fink, 1964), 157–78, Hans-Ulrich Gumbrecht und J. E. Müller, „Sinnbildung als Sicherung der Lebenswelt: ein Beitrag zur funktionsgeschichtlichen Situierung der realistischen Literatur am Beispiel von Balzacs Erzählung La Bourse“, in Honoré de Balzac, hrsg. von Hans-Ulrich Gumbrecht, Karlheinz Stierle und Rainer Warning (München: W. Fink, 1980), 57–81, Küpper, Balzac, 11–67, Andreas Kablitz, „Erklärungsanspruch und Erklärungsdefizit im Avant-propos von Balzacs Comédie humaine“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989): 261–86, sowie Rainer Warning, „Chaos und Kosmos: Kontingenzbewältigung in der ‚Comédie humaine‘“, in Rainer Warning, Die Phantasie der Realisten (München: W. Fink, 1999), 35–76.↩
CH I, 1132, Anmerkung 3.↩
Zu den konkreten Einflussquellen des Balzac’schen Projekts, insbesondere auch zu den mystischen Quellen beispielsweise: Marie-Claude Amblard, L’œuvre fantastique de Balzac: sources et philosophie (Paris: Didier, 1972).↩
Vgl. hierzu Auerochs, Erzählte Gesellschaft, 17–29.↩
Curtius, Balzac, 431.↩
S. Warning: „Chaos und Kosmos“, 35–76 sowie Kablitz, „Erklärungsanspruch und Erklärungsdefizit“, 272.↩
Aleida und Jan Assmann, Schleier und Schwelle.3 Bde. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation V. (München: W. Fink, 1997), 10.↩
S. Warning, „Chaos und Kosmos“, 40.↩
Balzac lässt in seinem Konzept das aristotelische Gegensatzpaar Fiktion und Geschichtsschreibung kollabieren: „J’ai mieux fait que l’historien, je suis plus ibre“ (15). Zu dieser Problematik und Balzacs Umgang mit der mimesis, s. Küpper, Balzac, 31, sowie Auerbach, Mimesis, und Jauß, „Nachahmungsprinzip und Wirklichkeitsbegriff“, 157–78.↩
Für Proust zeigt das Luc Fraisse, L’éclectisme philosophique de Marcel Proust (Paris: PUPS, 2013).↩
Balzac selbst spricht in den Illusions perdues von den „zwei Geschichtsschreibungen“, der „Histoire officielle“ und der „Histoire secrète“, s. CH IV, 1020.↩
Zitat aus der Einleitung zur Études de mœurs, CH I, 1160.↩
S. hierzu Küpper, Balzac, 28. Diesen Übergang macht Küpper zwischen den zwei Vorworten, der Vorrede von 1835 und dem Avant-propos von 1842, fest.↩
Bei kaum einem Autor ist die persönliche Liebesgeschichte wohl so eng mit dem Traum vom Werk verknüpft wie bei Balzac. Die Liebeschimäre, die sich zu Beginn seiner Karriere nicht realisiert und hinter der die Beziehung mit der Marquise de Castries steht, wird bekanntlich in dem Roman La Duchesse de Langeais verarbeitet. Das Markante an der Beziehung zu Mme Hanska dagegen ist, dass bei Balzac das Ende des Werks mit der lang ersehnten Heirat, aber auch mit dem eigenen Tod zusammenfällt.↩
Bei der „sylphide“ handelt es sich um einen Luftgeist und um eine implizite – nur in Form des Vergleichs, ohne Nennung des Intertextes – Anspielung auf eine Figur aus Chateaubriands Mémoires d’outre-tombe, die Letzterer im Unterkapitel „Fantôme d’amour“ benennt. René de Chateaubriand, Mémoires d’outre-tombe (Paris: Gallimard, 1951), 93: „(c’était toujours ma sylphide)“ (Ire partie, liv. III, chap. 10). Die Sylphide verzeichnet im 19. Jahrhundert eine enorme Präsenz in den verschiedenen Künsten. Rousseau entdeckt sie in seinen Bekenntnissen (xi) als Vergleich für seine Imaginationskraft: „Sans quelques réminiscences de jeunesse et Mme d’Houdetot, les amours que j’ai sentis et décrits n’auraient été qu’avec des sylphides“, vgl. René de Chateaubriand,Mémoires d’outre-tombe, 1133.↩
1842, das sei hier nur angemerkt, ist nicht allein das Jahr, in dem die édition complète in den Druck geht, sondern auch das Jahr, in dem Balzac zehn Jahre nach Beginn der Liebschaft mit Mme Hanska erfährt, dass seine Geliebte nach dem Tod ihres Ehemanns frei wird. Die Monate Juni und Juli 1842 lassen damit nicht nur den Traum von einer Gesamtausgabe wahr werden, deren Plan Balzac – erstmals unter Erwähnung des späteren Titels – in einem Brief an Ève Hanska skizziert (als Beleg gilt der Balzac-Forschung der Brief vom 26. Oktober 1834). Sie stehen auch für die neu belebte Beziehung zu seiner Geliebten, vgl. hierzu die Briefe seit dem 5. Juni 1842 sowie die Einleitung v. Ulla Momm, Gerda Gensberger, Hrsg., Honoré de Balzac: Briefe an die Fremde (Frankfurt a.M.: Fischer, 1999).↩
Zur Rousseau’schen Tradition der Entblößung des Herzens (als bereits ästhetisiertes „wahres“ Ich), s. Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief: die Entstehung ästhetischer Subjektivität (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989), 21–43.↩
Zum Geheimnis und zur Bedeutung des „sens caché“, s. CH I, 1126. Zur Balzac’schen Vertiefung des Chateaubriand’schen Konzepts des Geheimnisses, s. Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaften, 186.↩
Aleida und Jan Assmann, Schleier und Schwelle, 7–16. Die Erfindung eines Geheimnisses gilt als „Gründungsakt der Kultur“ und kategorische Abgrenzung gegenüber der Tierwelt, die „Versteck und Verstellung“, aber kein Geheimnis kennt, Assmann und Assmann, Schleier und Schwelle, 7 unter Bezug auf Georg Simmel, Gesamtausgabe in 24 Bänden, Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992), 406 und Volker Sommer, Das Lob der Lüge: Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch (München: C.H. Beck, 1992), 10–6 zur Reproduktion dieser beiden Gegenpole, bei der das Geheimnis Schwellen errichtet, die Wendung an die Öffentlichkeit diese einreißt.↩
CH IV, 1020.↩
Zur moralistischen Fundierung der Comédie humaine, s. z.B. die Autoren in Fußnote 13.↩
Angespielt ist damit auf das Horaz’sche vertere stilum, vgl. Horaz, Sermones = Satiren, Lateinisch/Deutsch (Stuttgart: Reclam, 1972), I, 10, 72.↩
Albrecht Koschorke et al., Hrsg., Der fiktive Staat: Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas (Frankfurt a.M.: Fischer, 2007), 59. Eine Rolle mag überdies auch die strikte Zensur der Restaurationszeit gespielt haben, die sich zwar unter dem Bürgerkönig Louis Philippe lockerte, davor aber Techniken des Verschweigens und der argumentativen Widersprüchlichkeit hervorbrachte, die Möglichkeiten boten, Kritik und Zensur zu entgehen, vgl. hierzu exemplarisch Hubertus Kohle, „Der Tod Jacques Louis Davids: zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der französischen Restauration“, in Idea: Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 10, 127–54. Balzac spielt auf die Pressezensur der Restaurationszeit beispielsweise in den Illusions perdues an.↩
Die Kontraste stellen ein wichtiges Element der Balzac’schen Ästhetik dar, Balzac selbst nennt sie in der Einleitung der Études de mœurs als wichtiges Gesetz und Teil der menschlichen Kreation, CH I, 1133.↩
Curtius, Balzac, 431.↩
Wolfgang Iser, Walter Pater: the Aesthetic Moment (Cambridge: Cambridge University Press, 1987), 77. Gerade in diesem widersprüchlichen, leidenschaftlich-imaginativen Moment wird Henry James das Charakteristikum von Balzacs Stil sehen. Beschrieben wird er mit Worten, die nicht nur auf die Definition von Balzacs Stil, sondern zuglich auf seine Selbstpräsentation im Vorwort zurück verweisen: „it bristles, it cracks, it swells and swaggers; but it is a perfect expression of the man’s genius“, Henry James, Literary criticism, hrsg. von Leon Edel, 2 Bde., Bd. 2: French Writers. Other European Writers (New York: Library of America, 1984), 67. Ohne Rückbezug auf Balzac wurde an Henry James Vorreden, dann ausgerechnet ausgehend von dem poetologischen Bild des Kusses, sein Stil als Sehform bestimmt, s. Wolfgang Iser, Walter Pater, 64, sowie Inka Mülder-Bach, „Genealogie und Stil. Henry James’ Prefaces“, Poetica 20 (1988): 104–30, hier 128.↩
Neben der Idee der Bewegtheit und Performativität der Gesellschaft erwähnt Balzac diese Interaktion explizit: „Ainsi l’œuvre à faire devait avoir une triple forme: les hommes, les femmes et les choses, c’est-à-dire les personnes et la représentation matérielle qu’ils donnent de leur pensée ; enfin l’homme et la vie“ (9).↩
S. hierzu Genette, Seuils, vor allem 221–8. Henri Mitterand verweist darauf, dass jede „préface“ aufgrund ihrer (rückblickenden) Tempussignale im Grunde eine „postface“ ist, Henri Mitterand, „Le discours préfaciel“, in Henri Mitterand und Graham Falconer, La lecture sociocritique du texte romanesque (Toronto: A.M. Hakkert, 1975), 3–14.↩
Genette, Seuils, 221–8.↩
Genette, Seuils, 228.↩
Zu dieser Formel, s. CH I, 1111.↩
CH I, 1110 und v.a. 1132–3.↩
Fargeaud, „Introduction“, 4.↩
Renate Lachmann, Die Zerstörung der schönen Rede: rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen (München: Fink, 1994), 465.↩
Gustave Flaubert lehnt Vorworte grundsätzlich ab, verzichtet folglich ganz darauf und erörtert Literaturkritisches, Ästhetisches wie Privates lieber in einer tausendseitigen Korrespondenz, s. Gustave Flaubert, Correspondance, hrsg. von Jean Bruneau und Yvan Leclerc, 5 Bde. (Paris: Gallimard, 1980–2007). Charles Baudelaire versucht sich an mehreren „projets de préface“, um sich gegen einen als ungerecht empfundenen juristischen Prozess der Fleurs du mal zu wehren; zur Publikation kommt jedoch keines davon, s. Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 1, 181–7. Und auch Friedrich Nietzsche lässt es in der Leseranrede der Götzendämmerung lieber bei ein paar kurzen, mehr oder minder kryptischen Bemerkungen bewenden, s. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert (Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1985), 9–10.↩
S. hierfür die entstehungsgeschichtlichen Anmerkungen in Henry James, Literary criticism II, 1359–69 sowie Mülder-Bach, „Genealogie und Stil“, 104–30, hier 104–5.↩
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