Nationalsozialismus und Genozid in der spanischen Gegenwartsliteratur
Ikonographien des Bösen und fiktionalisierte images malgré tout bei Ricardo Menéndez Salmón
Marco Thomas Bosshard
1. Einleitung: Erinnerungskultur siebzig Jahre nach Kriegsende
Im Zuge der Masse an Veröffentlichungen 2014 anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs hundert Jahre zuvor, 2015 dann auch wieder in der breiten Berichterstattung über das Weltkriegsende und vor allem die Befreiung der Konzentrationslager vor siebzig Jahren hat sich gezeigt, welche Relevanz die kulturwissenschaftliche Theorie zu den lieux und milieux de mémoire1 noch immer besitzt: Die Weltkriege als europäischer, ja weltweiter Erinnerungsort hallen im kollektiven Gedächtnis nach wie vor nach.2 Und dennoch verändert sich das Phänomen, vollzieht sich gerade jetzt jener Paradigmenwechsel, jener Umbruch, den die Theorie längst zu benennen weiß, deren konkrete Auswirkungen jedoch noch nicht wirklich absehbar sind: Wie soll eine angemessene Erinnerungskultur angesichts sterbender Zeugen bzw. sich auflösender Erinnerungsmilieus auch über den immer größer werdenden zeitlichen Abstand hinweg weitergeführt werden? Dass hier gerade die französische Theoriebildung die gesellschaftliche und auch kulturwissenschaftliche Debatte stark beeinflusst hat, ist angesichts der unmittelbaren Involvierung Frankreichs in die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, auch angesichts des Todes von Maurice Halbwachs im KZ Buchenwald, nicht ganz so überraschend. Für Spanien hingegen trifft dies nicht oder nur höchst mittelbar zu. Zur zeitlichen Distanz zu den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs gesellt sich hier obendrein eine räumlich-geschichtliche Distanz, die fast jegliche Äußerungen von dort zu diesem Thema auf den ersten Blick als obsolet erscheinen lassen.
Ein Trugschluss. Wenn man den Nationalsozialismus als kulturelles Phänomen der ersten Hälfte des Jahrhundert – als Spitze der Unkultur der Moderne – nicht allein vor dem Hintergrund spezifisch deutscher Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts erklären mag, sondern sein antisemitisches, rassistisches, faschistisches Substrat mit Diskursen der Epoche, wie sie in der gesamten Romania präsent sind, auf Schnittmengen hin untersucht, dann wird man selbstredend auch in Spanien fündig werden. Die künstlerische Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung dieser Diskurse hingegen gehorcht dort einer Eigendynamik, die uns in dieser Form weder aus dem deutschen noch aus dem französischen oder italienischen Kontext geläufig ist.
2. Literatur und Shoah in Spanien
Angesichts der formalen Neutralität Spaniens im Zweiten Weltkrieg mag man vermuten, dass die spanische Gesellschaft, deren Erinnerungskultur und -arbeit sich naturgemäß bis heute um das Trauma des eigenen Bürgerkriegs dreht, zum Nationalsozialismus und zur Shoah als dem Thema einer kritischen literarischen Auseinandersetzung nur einen sehr mittelbaren Zugang hat, der entsprechend auch quantitativ nicht sonderlich ins Gewicht fallen dürfte. Und tatsächlich: Das Genre der mehr oder minder breit rezipierten KZ-Zeugenliteratur nach dem Modell eines Primo Levi, Robert Antelme, Jean Améry, Jean Cayrol, Elie Wiesel oder auch Imre Kértesz ist in Spanien nahezu inexistent3 – sieht man einmal von Joaquim Amat-Piniella, Max Aub und natürlich vor allem von Jorge Semprún4 ab. Alle diese spanischen Autoren wurden jedoch nicht aufgrund ihrer jüdischen Abstammung, sondern aus politischen Gründen verfolgt. Ebenso wenig sind sie in Vernichtungslagern im engeren Sinne interniert gewesen, sodass sie als Zeugen der Shoah nur bedingt und indirekt angeführt werden können.
So wie Semprún und Amat-Piniella ihre Erinnerungen an die Lager nicht auf Kastilisch, sondern auf Französisch bzw. Katalanisch niederschrieben, gehen auch die im internationalen Vergleich späten Anfänge der nunmehr nicht mehr vorwiegend autobiographisch geprägten, stärker fiktionalisierenden KZ-Literatur in Spanien interessanterweise ebenso wenig einher mit der Verwendung der spanischen bzw. kastilischen Sprache: Maria Àngels Angladas katalanischsprachiger Roman El violí d’Auschwitz, erschienen notabene 1994, eröffnete in Spanien eine Reihe von – in der Zählung Marteen Steenmeijers – gerade einmal acht, in der Folge auch auf Kastilisch verfassten Romanen zum Themenkreis der Shoah, die bis Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts mit Ausnahme von Antonio Muñoz Molina und seinem Roman Sefarad (2001) von mehrheitlich wenig bekannten Autoren veröffentlicht wurden.5 In den letzten zehn Jahren schlossen sich daran einige weitere Romane an, so z.B. jüngst der eher kommerziell ausgerichtete Roman La bibliotecaria de Auschwitz (2012) von Antonio G. Iturbe, Javier Cercas’ Roman El impostor (2014) sowie die beiden Romane La ofensa (2007) und Medusa (2012) von Ricardo Menéndez Salmón, auf die hier näher eingegangen werden soll. Am Beispiel der letztgenannten Texte lässt sich mit Blick auf die Repräsentation der Shoah und anderer Kriegsverbrechen der Nazi-Zeit in der spanischen Gegenwartsliteratur das Zusammenspiel einer Reihe von europäischen Diskursen sowohl literarischer (Modiano, Littell, Sebald) als auch theoretischer (Didi-Huberman, Agamben, Žižek) Provenienz mit einem durch Borges und Bolaño vorgeprägten lateinamerikanischen Resonanzraum verdeutlichen, der sich immer mehr für Täter- als für Opferfiguren zu interessieren scheint.6 Ihnen allen gemeinsam ist ihr impliziter Dialog mit dem Topos des indicible, des Verbots bzw. der Vermeidung der Darstellung des Unsagbaren – und teilweise auch dessen Transgression –, wie er etwa in Claude Lanzmanns Film Shoah zum Tragen kommt.7
3. Menéndez Salmóns Trilogie des Bösen und ihre ikonotextuelle Weiterführung
Ricardo Menéndez Salmóns Romane La ofensa (Barcelona: Seix Barral, 2007), Derrumbe (Barcelona: Seix Barral, 2008) und El corrector (Barcelona: Seix Barral, 2009) wurden von der Literaturkritik im Nachhinein als „trilogía del horror“ (‚Trilogie des Schreckens‘) bezeichnet.8 Diese erste Charakterisierung wurde später dahingehend präzisiert, dass es sich bei den drei Romanen um eine „Trilogía del mal“9 (‚Trilogie des Bösen‘) handele. In der Tat scheint diese Bezeichnung angesichts der durchgängigen Auseinandersetzung des Autors mit dem Bösen, in enger Anlehnung an Baruch Spinoza, angebrachter; sie setzt bereits vor der Romantrilogie ein und wird über sie hinaus weitergeführt, wie die zahlreichen expliziten und impliziten Verweise auf Spinoza in Menéndez Salmóns Texten zeigen.10 Dabei begreift Menéndez Salmón das Böse mit Spinoza nicht als das Andere, das gesondert vom Guten sich von diesem ganz und gar unterscheidet, sondern als integraler Bestandteil der einen Welt, in der wir alle – Opfer und Täter, letztere nicht als Un-, sondern notwendigerweise als Mitmenschen – leben.11
Jenseits der gemeinsamen Klammer des ‚Bösen‘ behandeln die Romane der Trilogie jedoch in Zeit und Raum sehr unterschiedliche Themen, die zudem mittels ebenfalls sehr unterschiedlicher Genrekonventionen umgesetzt werden. Während El corrector die Terroranschläge in Madrid vom 11. März 2004 literarisch zu verarbeiten versucht12 und intertextuell mit Dostojewskis Dämonen verschränkt, basiert Derrumbe mit seinem Kommissar Manila, der dem Massenmörder Mortenblau nachstellt, zumindest im ersten Teil architextuell auf dem Kriminalroman bzw. dem literarischen Psychothriller. La ofensa hingegen erzählt die Geschichte des Bielefelder Schneiders und Wehrmachtsoldaten Kurt Crüwell, der in dieser Funktion in ein Massaker involviert ist, das an die Ermordung der französischen Zivilbevölkerung durch die deutschen Besatzer in Oradour-sur-Glane gemahnt.
Vor allem dieser erste Teil der Trilogie weist angesichts seiner Weltkriegsthematik aus der Perspektive eines deutschen Protagonisten eine ganze Reihe von Parallelen zu Medusa auf, demjenigen Roman Menéndez Salmóns, der im Zentrum der folgenden Betrachtungen stehen wird. Ohne dass La ofensa hier ebenso ausführlich analysiert werden könnte, muss zumindest darauf hingewiesen werden, dass dem Medium Film in diesem ersten Teil der ‚Trilogie des Bösen‘ eine fast ebenso große Rolle zukommt wie später in Medusa. Am Ende von La ofensa, nach dem Krieg und nach den Massakern, trifft Kurt Crüwell im Londoner Exil seinen ehemaligen Offizier Löwitsch wieder. Zusammen sehen sie einen Film – worauf Kurt schließlich stirbt:
Al terminar la película […] todos lo miraron. Pero esta vez, a pesar de que sus ojos seguían abiertos, Kurt ya no pudo notar el peso de las miradas.
Cuando Löwitsch se acercó, […] advirtió que en el ojo derecho del hombre sentado se había formado una lágrima del tamaño de un mosquito. El antiguo oficial se acuclilló entonces ante su subordinado, adelantó sus labios hacia el rostro en completa calma y succionó el ojo derecho del sastre de Bielefeld hasta tragarse su lágrima. Al hacerlo, sus párpados temblaron antes de caer sin ruido.
[…] – Der Schneider –dijo [Löwitsch] con la diáfana solemnidad de las grandes ocasiones– ist tot.13
Dieses auf den ersten Blick etwas pathetisch wirkende Ende erklärt sich dadurch, dass Kurt Crüwell auf der Leinwand im Medium Film dieselben Bilder sieht, die er Jahre zuvor als Wehrmachtsoldat mit eigenen Augen wahrgenommen hat, denn es handelt sich bei dem Film um nichts anderes als die Visualisierung ebenjenes Massakers an der Zivilbevölkerung des fiktiven französischen Städtchens Mieux, an dem Crüwell als Soldat in Diensten Hitlers beteiligt war und das am Ende des Kapitels XI folgendermaßen wiedergegeben wurde:
Uno a uno, los habitantes de Mieux fueron conducidos hacia la iglesia. Los tres soldados abrieron la puerta principal. Apostados en el umbral, contaron en voz alta hasta noventa y uno, al tiempo que los vecinos cruzaban ante ellos. Cuando el último aldeano hubo entrado (un niño con la polio, que se ayudaba de una tosca muleta), los soldados aseguraron la entrada.
[…] Löwitsch mandó pegar fuego […] y dio la espalda a su tropa. Sus pasos resonaban como aldabonazos.
Entonces Kurt se demayó.14
Mit Blick auf die Medialität der Repräsentationen von Nazi-Verbrechen ist im Zusammenhang mit La ofensa festzuhalten, dass das Medium Bild im Unterschied zum Medium Schrift eine größere Empathie bzw. einen größeren Affekt zu generieren scheint: Während Crüwell nach dem Massaker zunächst jegliche Empathiefähigkeit verliert15 und nicht mehr weinen kann, bedeutet die finale Konfrontation mit den auf Zelluloid festgehaltenen Bildern des Massakers Jahre später die Wiedergewinnung der Empathie und des Weinenkönnens – aber gleichzeitig auch den eigenen Tod.
Genau diese bereits in La ofensa eingeschriebene Reflexion über die affektbeladene, mediale Rezeption von Bildern des Schreckens wird in Medusa weiterentwickelt und auf verschiedenen Ebenen ausdifferenziert. Dabei verlagert sich in Medusa der Schwerpunkt im Vergleich zur noch stärker plotgeleiteten ‚Trilogie des Bösen‘ immer mehr auf die Deskription medialer Schreckensbilder und die Reflexion über sie. Der erste sich an die ‚Trilogie des Bösen‘ anschließende Roman Menéndez Salmóns, La luz es más antigua que el amor (Barcelona: Seix Barral, 2010), nimmt in dieser Entwicklung eine Übergangsstellung ein: Er führt weg von gängigen narrativen Substraten, wie sie in der vorgängigen ‚Trilogie des Bösen‘ noch zu finden sind, und öffnet Menéndez Salmóns Produktion reflektierenden Metadiskursen, indem der Roman Leben und Werk zweier fiktiver Künstler – des italienischen Renaissancemalers Adriano de Robertis und des zeitgenössischen russischen Malers Semiasin16 – mit demjenigen eines real existenten Künstlers, Mark Rothkos, engführt. So darf man behaupten, dass Menéndez Salmón seit La luz es más antigua que el amor weniger die unterschiedlichen ontologischen Erscheinungsformen des Bösen anvisiert, sondern nunmehr dessen mediale Manifestationen diskutiert. Diese Entwicklung von der narrationsbasierten ‚Trilogie des Bösen‘ über eine von der Narration abstrahierende Ikonographie des Bösen kulminiert in Medusa schließlich in einer literarischen Medienreflexion, die gekennzeichnet ist durch einen sehr hohen Grad an Intertextualität sowohl mit literarischen als auch mit theoretischen Quellen.
4. Von der Ikonographie zur Ikonologie des Bösen: Medusa
Ähnlich wie in La luz es más antigua que el amor bleibt in Menéndez Salmóns Roman Medusa nur noch die (fiktive) Künstlerbiographie als Quelle einer rudimentären Narration übrig. Doch selbst diese ist von Anbeginn bereits gefiltert durch einen namenlosen, kunsthistorisch bewanderten Ich-Erzähler, der in essayistischem Duktus und mit vielen eingestreuten, fast immer ebenso fiktiven Zitaten Leben und Werk des 1911 an der Ostsee geborenen Protagonisten Karl Gustav Friedrich Prohaska rekonstruiert. Der junge, talentierte Maler absolviert nach der Machtergreifung Hitlers in Berlin ebendort eine Lehre als Fotograph und lernt im Rahmen dieser Tätigkeit einen Kulturfunktionär des NS-Regimes kennen. Durch diesen kommt Prohaska in Kontakt sowohl zum Medium Film als auch zu einer Anstellung als Dokumentarfilmer in Goebbels Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda: Fortan dokumentiert und stilisiert Prohaska den Genozid der Nazis, vorzugsweise – aber nicht ausschließlich – auf Zelluloid.17 Nach dem Krieg – dies wird im zweiten Teil des Romans erzählt – verschlägt es Prohaska nach Spanien, Lateinamerika und Japan, bevor er sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1962 schließlich umbringt.
Ganz am Beginn des Romans indes steht eine prologartige Szene mitten aus dem Zweiten Weltkrieg, und zwar die detailgetreue Beschreibung eines kurzen, knapp dreiminütigem Films Prohaskas über eine von den Nazis im litauischen Kaunas verübte Massenhinrichtung:
La secuencia, rodada en blanco y negro, era brutalmente monótona. Una fila de prisioneros lituanos esperaba a la izquierda. La cámara mostraba, indefectiblemente, a tres de ellos. Ni uno más ni uno menos: siempre tres. Un muro de piedra basta de una altura aproximada de cuatro metros, aguardaba por los prisioneros a diez pasos. A derecha e izquierda del muro había dos miembros del cuerpo de Stahlecker, el nefando Einsatzgruppe A. Cuando el prisionero llegaba ante el muro, se ponía de cara a él, uno de los asesinos le disparaba en la sien y el otro retiraba el cadáver. Con el siguiente prisionero se invertía el orden. Quien antes había disparado, ahora retiraba el cadáver; quien antes había retirado el cadáver, ahora disparaba. La película no tenía banda de sonido, pero en la actitud de los prisioneros – resignada, mecánica, casi escéptica – se adivinaba que la matanza se ejecutaba en silencio […].18
Charakteristisch für Menéndez Salmóns Medusa ist nun die Tatsache, dass in dem Roman sowohl die borgesianisch vorgeprägte Täterperspektive als auch die Opferperspektive präsent sind – allerdings beide nur marginal und ausschließlich qua Intertextualität.19 Als einziges echtes der unzähligen fingierten Zitate im Text (dies ist bekanntlich ein borgesianisches Stilmittel par excellence) ist hierbei der unsägliche Brief von Willy Just an Obersturmbannführer Walter Rauff zur Verbesserung der Effizienz sogenannter „Spezialwagen“ zu nennen – wobei die „Spezialwagen“ euphemistisch Lastwagen bezeichnen, die im Zuge der Endlösung zu mobilen Gaskammern umgebaut wurden.20 Nicht als wörtliches Zitat, aber immerhin als inhaltliche Paraphrase verweist Menéndez Salmón repräsentativ für die Opferperspektive auf die Memoiren von Irène Némirovsky.
Der ganze große Rest des Romans lässt sich allerdings weder auf eine eindeutige Täter- noch Opferperspektive reduzieren. Vielmehr haben wir es zu tun mit einem Beobachter – Prohaska, der als Mitläufer der Nazis den Schrecken dokumentiert – sowie, gleichsam in Form einer Beobachtung zweiter Ordnung, den Ich-Erzähler, der Leben und Werk des Künstlers rekonstruiert und kommentiert. Der Leser des Romans schließlich wäre gar als Beobachter dritter Ordnung zu beschreiben, als Rezipient einer mehrfach gefilterten Beobachtung, der seinerseits die Ausführungen der extra- und intradiegetischen Erzähler kritisch liest. Die Schreckensszenarien des Kriegs wie das Massaker in Kaunas zu Beginn, aber auch die unsäglichen Experimente mit Häftlingen im KZ Dachau und andere Gräueltaten werden so einerseits distanziert wiedergegeben, andererseits sind sie auch unmittelbar erfahr- bzw. lesbar, indem sie Menéndez Salmón bzw. sein Ich-Erzähler en détail als präzise Ekphrasis der Bilder und Filme Prohaskas wiedergibt; die deskriptive Ekphrasis generiert so eine Art effet de réel, der die Existenz des fiktiven Bildmaterials zu beglaubigen versucht.
Prohaskas letztes Bild des Weltkriegs ist eine Fotographie, auf der ein sowjetischer Soldat das geköpfte Haupt eines Deutschen vorzeigt; dieses Bild, in dem bereits das titelgebende Medusa-Motiv anklingt, beschließt den ersten Teil des Romans. Zu Beginn des zweiten Teils treffen wir Prohaska im Exil an: zunächst in Spanien, wo er ausgemergelte Häftlinge in einem asturischen Gefängnis darstellt, ebenso im Medium der Fotographie. In Spanien hielt sich der fiktive Künstler jedoch signifikanterweise bereits zuvor auf, Jahre vor dem Weltkrieg: Wie sich bereits im ersten Teil des Romans gezeigt hat, ist der Spanische Bürgerkrieg, wie im folgenden Zitat zu sehen, untrennbar mit der Initiationserfahrung Prohaskas als Filmemacher verbunden, denn unterwegs mit der deutschen Legion Condor, die die Angriffe auf die baskische Stadt Guernica flog, war aus dieser Reise Prohaskas allererster Dokumentarfilm hervorgegangen:
Varios momentos en los que Prohaska, motu proprio, decide eliminar la banda sonora – como también hizo en la película de Kovno – mientras los miembros de la dotación del Heinkel 111 charlan entre sí y observan de vez en cuando la cámara, producen un raro desasosiego: el desasosiego de la inminencia. De pronto la guerra en España se ha convertido en un fantasma más o menos patibulario.21
Menéndez Salmóns Ich-Erzähler spricht gar von einem veritablen Autorenfilm – und zwar deshalb, weil Prohaska hier in vorsichtig subversiven Ansätzen aus dem Propagandadiskurs der Wochenschau-Kurzbeiträge ausschert und es wagt, seine Dokumentation des Spanischen Bürgerkriegs ästhetisch zu verfremden, indem er (wie später auch in seinem Film über das Massaker in Kaunas) auf die Tonspur verzichtet. Filmtheoretisch markiert dieser Verfremdungseffekt nach Gilles Deleuze den Übergang vom sog. Bewegungs-Bild, das mit der filmisch dargestellten Automatisierung der Massen – bei Prohaska mit der Automatisierung des Massenmordes – einhergeht, zum Zeit-Bild. Dessen „neuartige Ordnung von Bilder und Zeichen“ könne, so Deleuze, charakteristischerweise einhergehen mit der „Disjunktion des Akustischen und Visuellen“, mit der „Dissoziation von Gesprochenem und Gesehenem“22. Die noch den automatisierten Bewegungs-Bildern von Massenexekutionen oder Bombenabwürfen verhaftete visuelle Ebene von Prohaskas Filmen öffnet sich daher durch die Disjunktion der Ton- von der Bildspur dem Zeit-Bild, das nach Deleuze nicht etwa „die Abwesenheit von Bewegung, sondern die Umkehrung der Hierarchie [impliziert]; nicht mehr die Zeit ist der Bewegung untergeordnet, sondern die Bewegung der Zeit“23, also jenen exakt drei Minuten und 27 Sekunden (so hat es der Ich-Erzähler nämlich ausgerechnet), die Prohaska seiner audiovisuell disjunktiven Darstellung der endlos scheinenden Kette von Hinrichtungen in Kaunas einräumt:
el elemento más aterrador era que la película transcurriera in media res [sic]; es decir: que la primera imagen la antecedían sin duda otras ejecuciones y que la última imagen no cerraba el ciclo de la muerte, pues en la toma volvían a aparecer las tres cabezas inclinadas, sometidas, insobornables, de las inminentes víctimas. Sencillamente, el cineasta había considerado que tres minutos y veintisiete segundos era tiempo suficiente para mostrar lo que quería.24
Nach dem Weltkrieg und dem Aufenthalt im Franco-Spanien nimmt Prohaska seine kinematographische Tätigkeit während der nächsten Stationen seines Exils nunmehr in Lateinamerika wieder auf – dem Ort, an dem nun, ungefähr in der Mitte des Romans, eine Art Peripetie einsetzt und die in Prohaskas Filmen aus Spanien und Litauen etablierte Ästhetik (bzw. deren ideologische Konnotation) modifizieren wird.
Prohaska bereist mehrere Länder des Subkontinents und lernt die dortigen Diktaturen kennen, deren Schreckenstaten er neuerdings dokumentiert. Detailliert beschreibt Menéndez Salmóns Ich-Erzähler eine Schlüsselszene aus einem Film Prohaskas, der in Nicaragua unter Somoza entstanden sei:
Sirviéndose de un montaje en paralelo, al modo de la escuela soviética, Prohaska construye dos historias en abîme que confluyen hacia un nodo evidente: frente a la visibilidad de las ratas, que devastan campos, asuelan edificios y devoran cuanto a su paso encuentran […], esa plaga a que no se escucha que es el régimen de Somoza, su sordo y absurdo despotismo, devora cualquier esperanza ya no de rebeldía o de lucha, sino incluso de dignidad. Las imágenes de los miembros de la Guardia Nacional nicaragüense fumando perniabiertos frente a las riadas de ratas que infestan las calles de Managua es una metáfora más poderosa que cualquier plúmbea historiografía académica.25
Indem Prohaska hier einen Zusammenhang von Somozas Diktatur mit einer Rattenplage insinuiert, zitiert er die Bewegungs-Bildsprache der NS-Propaganda, um sie sodann ideologisch zu invertieren. Formal greift er nämlich auf dieselbe Technik zurück wie im Propagandafilm Der ewige Jude, wo ebenfalls mittels Parallelmontagen Juden mit Ratten gleichgesetzt werden.26
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Aus den Stills und der Transkription des vom Kommentator dazu gesprochenen Texts in Abb. [fig:boss1] geht hervor, dass Bild- und Tonspur in der NS-Propaganda gerade nicht divergieren, sondern kongruieren: Der gesprochene Text des Kommentators fungiert als eine Art performativ realisierte subscriptio eines rassistisch motivierten Emblems, das Bild und Bedeutung, Signifikant und Signifikat – Ratte und Jude – willkürlich miteinander koppelt.
Doch was bedeutet diese Umsemantisierung hinsichtlich des Status der Kunst und ihrer gesellschaftlichen Funktion? Wenn Prohaska die rassistischen Allegorien der NS-Propaganda auf den Kopf stellt und im Sinnbild der Ratte die Opfer eines totalitären Regimes – die Juden – nun einfach durch die Täter in einem anderen totalitären Regime – die Soldaten Somozas – ersetzt, überdeckt diese Austauschbarkeit von Tätern und Opfern dann nicht einfach nur das feige Selbstverständnis eines Künstlers, dem Ideologien nichts, seine interesselose Kunst aber alles bedeuten?27 Und bricht Menéndez Salmón, ebendiese Austauschbarkeit suggerierend, am Ende nicht ein weiteres Tabu mit Blick auf die literarischen Repräsentationen der Shoah und ihrer – angeblichen oder tatsächlichen Singularität –, indem er sie in eine ganze Reihe von Genoziden und Bürgerkriegen einordnet und darüber hinaus strukturelle Kontinuitäten zwischen ihnen insinuiert?
Prohaskas künstlerische Tätigkeit während der letzten Phase seines Exils in Japan – d. h. nach der lateinamerikanischen Episode, die wie gesehen, für die Umsemantisierung seines Kunstverständnisses steht – scheint sich von nun an weiter zu politisieren. Interessanterweise geht sie neuerdings mit einem Medienwechsel einher, der Prohaska wieder zur Fotographie zurückfinden lässt. In Prohaskas Zyklus Llagas de Hiroshima (‚Wunden von Hiroshima‘) erscheinen seine medial repräsentierten Opfer nicht mehr als anonyme Masse, sondern als überlebensgroße, die individuelle Persönlichkeit ausdrückende Einzelportraits.
Trotzdem bringt sich Prohaska, nach seinem Erfolg mit den japanischen Portraits (und auch nach dem Tod seiner Frau) kurz nach seiner Rückkehr nach Deutschland schließlich um, indem er sich allein auf einem Boot in der Nordsee versenkt. Das allerletzte, kurz vor seinem Freitod entstandene Werk Prohaskas, mit dessen Beschreibung der Erzähler den Roman beschließt, erlangt hierbei mit Blick auf eine abschließende Würdigung von Menéndez Salmóns Ikonographien des Bösen und seiner Strategien zur medialen Darstellung des Unsagbaren eine herausragende Stellung.
[fig:boss2]
Es handelt sich um eine einfache Zeichnung, die den Reigen der Schreckensdarstellungen beschließt und das in der symmetrischen Kapitelanordnung des Romans mit Prohaskas letztem Kriegsbild, dem enthaupteten Deutschen am Ende des ersten Romanteils, korrespondiert: eine auf den ersten Blick vermeintlich unwichtige, mit Kohle gezeichnete Kopie der Medusa des Caravaggio (vgl. Abb. [fig:boss2]) aus den Florentiner Uffizien. Bei genauerer Betrachtung stellt der Ich-Erzähler allerdings fest, dass sich im Auge von Prohaskas Medusa eine Gestalt spiegelt. Wir haben es zu tun mit dem einzigen Selbstportrait Prohaskas, das dieser in seiner Laufbahn je gezeichnet hat, mit einem winzigen „burócrata del mal […] más allá de la culpa y del remordimiento“28 – mit einem Technokraten, Dokumentar und Archivar des Todes, mit einem Handlanger jener perversen Tötungsmaschinerie, die von Nazi-Deutschland ausgegangen ist, sich dann aber, parallel zur Vita Prohaskas, auch auf die totalitären Regimes der spanischsprachigen Welt ausgeweitet hat.
Dieses „Anagnorisis in Florenz“ betitelte Schlusskapitel des Romans, in dem sich Prohaska also, mit deutlichen Anklängen an Hannah Arendt, gleichzeitig als auf der Seite der Täter positionierten „burócrata del mal“ und als Zeuge des Schreckens im Auge der Medusa spiegelt, wirft grundsätzliche Fragen zur medialen Darstellbarkeit des Schreckens auf. Zwar affirmiert Menéndez Salmón schon allein durch die Wahl seines Protagonisten, der Malerei, Fotographie und Filmkunst gleichermaßen beherrscht, vordergründig das Primat des Bildes in der Moderne und die Pertinenz der visual turns oder cultures der Gegenwart. Doch geht es ihm nicht darum, in der literarischen Fiktion jene Bilder, die infolge des Bilderverbots der Nazis in den KZs – abgesehen von Didi-Hubermans images magré tout, den kontrovers diskutierten, heimlich aufgenommenen Fotographien aus Auschwitz-Birkenau29 – realiter nie entstanden sind, lediglich zu rekreieren und auch nicht darum, das ‚Böse‘ einfach nur abzubilden, wäre doch die Folge einer solcher visuellen Repräsentationsstrategie – darauf weist der Medusa-Mythos hin – die Versteinerung des Betrachters im Angesicht des Schreckens. Menéndez Salmón greift bei seinen fiktionalisierten images malgré tout zwar, indem er die Schreckensbilder des 20. Jahrhunderts ekphrastisch in Sprache rückübersetzt, auf traditionelle Verfahren literarischer Mimesis zurück, allerdings erschöpft sich die Sprache bei ihm nicht in einer ausschließlich deskriptiven Funktion. Vielmehr wird hier ästhetisch reflektiert – und im Doppelsinne: Menéndez Salmón bildet nicht nur ab, sondern Reflexion vollzieht sich auch als meatliterarischer Dialog mit der Theorie, d.h. mimetische Abbildung und essayistische Erörterung gehen in Medusa im Medium der Sprache einher. Menéndez Salmóns Ich-Erzähler wird vom Schrecken, für den die Medusa allegorisch steht, eben gerade nicht versteinert, er fällt eben gerade nicht der Sprachlosigkeit anheim. Vielmehr ermöglicht es die Sprache – und mit ihr die Literatur –, das Böse bzw. den Schrecken selbst stillzustellen. Es kann daher kein Zufall sein, dass Prohaska trotz seiner kinematographischen Beschlagenheit jeweils am Ende der beiden Romanteile zu akinematographische Medien zurückkehrt: zur Fotographie und schließlich zur einfachen Zeichnung.30 Die literarische Sprache (und nicht etwa der Film, wie dies Kracauer im Zusammenhang mit KZ-Dokumentationen insinuiert hat) generiert in der Darstellung der diegetischen Welt letztlich einen Effekt, der jener finalen Spiegelung des Medusenhaupts auf Perseus’ Schild gleichkommt, jenem Moment, durch den das Böse überhaupt erst besiegt werden kann. Erst durch diese Distanzierung qua Sprache, durch die im Roman Medusa installierten (Selbst-)Beobachtungssysteme höherer Ordnung, letztlich durch die Reduktion der verstörenden Unmittelbarkeit all dieser unmenschlichen, affektbeladenen – für Kurt Crüwell in La ofensa gar tödlichen – Bilder auf Wörter wird ein Sprechen über den Schrecken und über das (vermeintlich) Unsagbare wieder denkbar:31 Die Verkörperung des Todes, die Medusa, wird gebannt, und zwar durch ebendiese Bilder des Todes, die Prohaska seinerseits auf Zelluloid gebannt hat – jedoch vom Ich-Erzähler in Worte gefasst worden sind. Dass dabei nicht mehr länger das todgeweihte Opfer des Holocaust – Agambens Muselmann32 – der Medusa ins Angesicht blickt, sondern ein Künstler, der sich obendrein aufseiten der Täter positioniert, erscheint folgerichtig als der letzte, der ultimative Tabubruch in einer ganzen Reihe von Tabubrüchen bei Menéndez Salmón, der – so sollte man meinen – noch viel radikaler als damals bei Littell eine kontroverse Debatte anstoßen müsste. Es spricht nicht für die Kritik – zumal für die deutsche, denn die spanische hat den Autor längst „a la cabeza de una nueva generación“33 situiert –, dass sich davon offenbar kaum jemand betroffen fühlt.34
Vgl. Pierre Nora, „Entre Mémoire et Histoire“, in Les lieux de mémoire, Bd. 1: „La République“, hrsg. von Pierre Nora (Paris: Gallimard, 1984), xvii.↩
Noras Unterscheidung zwischen Erinnerungsmilieus und Erinnerungsorten entspricht grosso modo Assmanns Differenzierung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis, auf die im Zusammenhang mit deutscher Erinnerungskultur und deutschem Gedenken an den Holocaust aus germanistischer Perspektive häufiger rekurriert wird. Vgl. Jan Assmann, „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in Kultur und Gedächtnis, hrsg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988), 9–19.↩
In den letzten Jahren fällt jedoch die Zunahme von Veröffentlichungen von Zeugenliteratur insbesondere in Katalonien auf. So wurde Joaquim Amat-Piniellas erstmals 1963 publizierter, autobiographischer Mauthausen-Roman K.L. Reich (Barcelona: Club Editor, 2013) 2005 und 2013 wieder neu aufgelegt und von Ignacio Martínez Pisón auf eine Stufe mit den Texten Primo Levis gehoben. Vgl. auch das testimonio des Anarchisten Francesc Comellas, Un català a Mauthausen: el testimoni de Francesc Comellas (Barcelona: Pòrtic, 2001) ebenfalls über Mauthausen, die Lebensgeschichte der Ravensbrück-Überlebenden Neus Catalá, die von Carmen Martí, Un cel de plom (Badalona: Ara llibres, 2012), in Romanform gebracht wurde, etc.↩
Semprúns zentrale Romane jedoch, in denen der Autor seine Erfahrungen im KZ Buchenwald verarbeitet, sind auf Französisch und nicht auf Spanisch verfasst, vgl. z.B. Le grand voyage und La montagne blanche – was nicht heißt, dass Topoi der KZ-Repräsentation nicht auch in Semprúns spanischen Texten auftauchen, so etwa „el humo gris del crematorio“ in Autobiografía de Federico Sánchez, vgl. Jorge Semprún, Autobiografía de Federico Sánchez (Barcelona: Planeta, 1982), 116.↩
Steenmeijer erwähnt außer Anglada und Muñoz Molina auch Varsovia (1999) von Hermann Tertsch, El niño de los coroneles (2001) von Fernando Marías, Velódromo de invierno (2001) von Juana Salabert, El comprador de aniversarios (2002) von Adolfo García Ortega, La habitación de cristal (2003) von Luis Manuel Ruiz sowie El invierno de las almas desterradas (2004) von Abel Caballero. Vgl. Marteen Steenmeijer, „La catástrofe del otro: la memoria del Holocausto en España“, in Guerra y memoria en la España contemporánea: War and Memory in Contemporary Spain, hrsg. von Alison Ribeiro de Menezes et. al. (Madrid: Editorial Verbum, 2009), 199–207, hier 203. Zepp und Gómez López-Quiñones haben nach diesem kurzen Beitrag Steenmeijers einen ersten Sammelband herausgebracht, dessen Beiträge systematisch die Beziehungen zwischen Holocaust, spanischer Literatur und spanischer Erinnerungskultur ausloten. Dabei geht es den Herausgebern, anders als in unserem Beitrag, in erster Linie um die Repräsentation der Shoah und weniger des Nationalsozialismus und seiner Akteure. Vgl. Antonio Gómez López-Quiñones und Susanne Zepp, Hrsg., The Holocaust in Spanish Memory: Historical Perceptions and Cultural Discourse, Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 7 (Leipzig: Leipziger Universitätsverlag), 2010.↩
Borges’ Erzählung Deutsches Requiem mit dem KZ-Lagerkommandanten Otto Dietrich zur Linde als autodiegetischem Erzähler begründet in Lateinamerika bereits 1946 (nach der Veröffentlichung in der Zeitschrift Sur; schon 1943 hat Borges ebendort die Erzählung El milagro secreto veröffentlicht, in der ebenfalls die Nazi-Thematik zum Tragen kommt) das Subgenre der Nazi-Täterliteratur und wird, katalysiert durch die Romane von Roberto Bolaño (La literatura nazi en América, 2666 und El Tercer Reich), insbesondere in Argentinien in jüngster Zeit mit Romanen u.a. von Edgardo Cozarinsky und Lucía Puenzo fortgeschrieben. Vgl. Marco Thomas Bosshard, „Der Blick der Täter: Nazis als Reflektorfiguren im argentinischen Roman und Film – ‚Lejos de dónde‘ von Edgardo Cozarinsky und ‚Wakolda‘ von Lucía Puenzo“, in Komparatistische Blicke auf Lateinamerika und Europa, hrsg. von Sascha Seiler (Heidelberg: Winter, 2016).
Darüber hinaus ließen sich aus fast allen Literaturen des Kontinents weitere Namen nennen, in denen (in unterschiedlicher Gewichtung) Shoah und Nationalsozialismus verhandelt werden: der Guatemalteke Eduardo Halfon mit Monasterio; der Argentinier Ariel Magnus mit La abuela, die Brasilianer Michel Laub mit Diário da Queda und Miguel Sanches Neto mit A Segunda Patria, die Mexikaner Jorge Volpi (En busca de Klingsor) und Pablo Paniagua (Abraxas), der Kolumbianer Juan Gabriel Vásquez mit Los informantes, der Chilene Jorge Edwards mit Retrato de María etc.↩
Vgl. Stuart Liebman, Claude Lanzmann’s Shoah: Key Essays (Oxford: Oxford University Press, 2007).↩
José María Pozuelo Yvancos, „Ricardo Menéndez Salmón y su Trilogía del horror“, in Ínsula: revista de letras y ciencias humanas 753 (2009): 14–7.↩
José María Pozuelo Yvancos, „‚Medusa‘, una ‚quest‘ de Menéndez Salmón“, in ABC, 24.9.2012, vgl. www.abc.es/20120924/cultura-cultural/abci-cultural-medusa-menendez-salmon-201209241207.html, aufgerufen am 10.11.2015.↩
Bereits in Menéndez Salmóns Debütroman La filosofía en invierno (Oviedo: KRK ediciones, 1999) kommt Baruch Spinoza als Hauptfigur tatsächlich vor; der Roman La noche feroz (Oviedo: KRK ediciones, 2006) wird mit einem Spinoza-Zitat als Epigraph eröffnet; in Derrumbe macht sich der Massenmörder Mortenblau Positionen Spinozas zu eigen; in Medusa (Barcelona: Seix Barral, 2012) lässt der Protagonist und Nazi-Filmer Prohaska seinen Sohn paradoxerweise auf den jüdischen Namen Baruch taufen. Diese auf den ersten Blick etwas konstruiert wirkende Namensgebung in Medusa erfährt, ebenso wie die Freundschaft Prohaskas zu seinem jüdischen Biographen Stelinski (den er in Dachau besucht), durch die implizite, in Menéndez Salmóns Büchern omnipräsente Referenz auf Spinoza und sein Konzept des Bösen eine eigentümliche Programmatik.↩
Darin stimmt Menéndez Salmón mit Georges Didi-Huberman überein, der es ablehnt, die Henker des Holocaust als Unmenschen zu definieren: „c’est en tant que semblable qu’un être humain devient le bourreau d’un autre.“ Georges Didi-Huberman, Images malgré tout (Paris: Minuit, 2003), 192.↩
Vgl. Dieter Ingenschay, „Las sombras de Atocha: el 11–M en la literatura española actual“, in Extensiones del ser humano: funciones de la reflexión mediática en la narrativa actual española, hrsg. von Matei Chihaia und Susanne Schlünder (Madrid/Frankfurt a. M.: Iberoamericana/Vervuert, 2014), 47–69; Ursula Hennigfeld, „Discourses of Terror in French and Spanish Novels after 9/11“, in Symbolism: An International Annual of Critical Aesthetics 14 (2014): 201–20.↩
Menéndez Salmón, La ofensa, 141–2.↩
Menéndez Salmón, La ofensa, 53–4.↩
„Aquel día, un hombre llamado Kurt Crüwell perdió la sensibilidad.“ Menéndez Salmón, La ofensa, 58.↩
Dieser schreibt im Roman übrigens ausgerechnet am 11. September 2001 einen Brief, durch den dessen Wahnsinn mit dem New Yorker Attentat in Verbindung gebracht wird. Selbstredend tritt Menéndez Salmón dadurch seinerseits auch wieder mit den Madrider Attentat vom 11. März, um das sich El corrector dreht, in einen intertextuellen Dialog.↩
Die Chronologie der Medien, derer sich Prohaska im Verlauf seines künstlerischen Lebens nach und nach bemächtigt – zunächst die Malerei, dann die Fotographie, schließlich der Film – entspricht somit vordergründig Stationen seiner Laufbahn und ist selbstverständlich signifikant.↩
Menéndez Salmón, Medusa, 13.↩
Im Text selbst finden sich zwei eindeutige Referenzen auf Borges: ein expliziter intertextueller Verweis, bei dem allerdings nicht auf Borges als Autor, sondern als Faulkner-Übersetzer Bezug genommen wird, und ein impliziter; an der Stelle nämlich, wo in Anspielung auf den Titel von Borges’ Erzählsammlung Historia universal de la infamia gesagt wird, in der Nacht der Bücherverbrennung auf dem Platz vor der Berliner Universität habe die Universalgeschichte der Niedertracht ihren Höhepunkt erreicht. Menéndez Salmón, Medusa, 49.↩
Vgl. Andreas Jordan, „Geheime Reichssache! Betrifft: Technische Abänderungen an den Spezialwagen“, September 2008, www.gelsenzentrum.de/spezial_wagen_t4_rauff.htm, aufgerufen am 10.11.2015.↩
Menéndez Salmón, Medusa, 54.↩
Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild – Kino 2 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997), 342.↩
Deleuze, Das Zeit-Bild, 347.↩
Menéndez Salmón, Medusa, 14.↩
Menéndez Salmón, Medusa, 111–2.↩
Max Rehmet, der im Wintersemester 2013/14 an der Ruhr-Universität Bochum an meinem Seminar über Repräsentationen des Nationalsozialismus in den spanischsprachigen Literaturen teilgenommen hat, hat als Erster auf diese frappierende Parallele hingewiesen.↩
Vgl. Prohaskas Selbstaussage: „‚Si Alemania hubiera sido comunista‘, confiesa en su último texto en vida, Carta a los futuros homicidas, ‚yo hubiera sido su fotógrafo, su pintor y su cineasta. Pero mi Alemania adulta fue fascista. Y yo, que no tengo ideología, estaba allí‘.“ Menéndez Salmón, Medusa, 21.↩
Menéndez Salmón, Medusa, 152.↩
Vgl. Anm. 11.↩
Für eine allgemein systematisierende Betrachtung der unterschiedlichen Text-Bild-Beziehungen in Menéndez Salmóns Romanen vgl. Nicolas Mollard, „Texto e imagen en las novelas de Ricardo Menéndez Salmón (2001–2010)“, Castilla: Estudios de Literatura 3 (2012): 249–73.↩
Somit erweisen sich jene hinlänglich bekannten Positionen, Dichtung bzw. Literatur nach Auschwitz sei nicht mehr möglich, als obsolet: Im Gegenteil ist es gerade das Medium Literatur, das der Bilderflut der Postmoderne – auch der Bilderflut zur Shoah und zum Nationalsozialismus im Kino, Fernsehen etc. – ein Minimum an Reflexion über solche Formen der (künstlerischen, aber auch nichtkünstlerischen, dokumentarischen) Repräsentation entgegenzusetzen vermag.↩
Vgl. Giorgio Agamben, Quel che resta di Auschwitz: l’archivo e il testimone. Homo sacer III (Turin: Bollati Boringhieri, 1998).↩
ABC cultural, 25. Januar 2014, 1.↩
Neben einer durchwachsenen Rezension von Ralph Hammerthaler, „Der kaltblütige Fotograf: Künstler in Zeiten der Diktaturen: Ricardo Menéndez Salmóns ‚Medusa“‘, Süddeutsche Zeitung, 20. Mai 2014, der von Carsten Regling besorgten deutschen Übersetzung des Romans, Ricardo Menéndez Salmón, Medusa (Berlin: Wagenbach, 2014), gab es nur eine weitere Zeitung von nationaler Bedeutung, in der Medusa mehr oder minder prominent besprochen wurde: Erich Hackl, „Wo Menschen die Möbel der Welt sind: schiefe Bilder, hohle Phrasen. Ricardo Menéndez Salmón barbarischer Roman ‚Medusa‘“, Presse, 25. April 2014, hat den Roman in Grund und Boden verdammt, indem er seine eigenen rhetorischen Topoi, mithilfe derer er vor Jahren schon Muñoz Molinas Sefarad verrissen hatte, in kaum angemessener Weise auf Medusa projiziert, vgl. Erich Hackl, „El caso ‚Sefarad‘: industrias y errores del santo de su señora“, Lateral 78 (Juni 2001), www.lateral-ed.es/revista/articulos/78caso.html. Ausgehend von einer apolitischen Stilkritik (aus der fast die gesamte Rezension besteht) spricht er Menéndez Salmón jegliche Kompetenz und Berechtigung ab, aus der Warte des Anderen das Böse – das Eigene, das eigene Trauma – zu repräsentieren. In demselben Jahr erschien von Hackl selber die ganz anders konzipierte Erzählung über Wilhelm Brasse, den tatsächlichen Fotografen von Auschwitz – was seinen unobjektiven Gestus womöglich erklärt, vgl. Erich Hackl, Drei tränenlose Geschichten (Zürich: Diogenes, 2014). In der Doppelbesprechung sowohl von Hackl als auch von Menéndez Salmón durch Jochen Rack im Büchermagazin Diwan im Bayerischen Rundfunk vom 5. Juli 2014 wird hingegen an Hackl Kritik geübt, während Medusa positiv bewertet wird, vgl. www.br.de/radio/bayern2/programmkalender/sendung830950.html, aufgerufen am 10.11.2015.↩
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